Die Morde von Potsdam

von Thomas Kuenneke

03.05.2021 - Kategorie: Ableismus

Berlin, 3.5.2021

…nach der Bluttat mit vier Toten und einer Schwerverletzten in der Potsdamer Betreuungseinrichtung der "Oberlin-Lebenswelten“ ist die 51-jährige Tatverdächtige in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden.

Ich glaube zu den Morden in Potsdam wurde aus „Einrichtungsperspektive“ schon viel in den Medien gesagt. Schrecklicher Einzelfall, wir sind eine große fürsorgliche Familie, Mitarbeitende, die unter den Ereignissen leiden, überfordernde Arbeitssituation…

Wo ist die Verantwortung der Einrichtung?

Wesentlich bescheidender, fast nicht sichtbar, wurde die Perspektive der Opfer in den Focus genommen.

Wo sind ihre Namen, ihre Bilder, ihr Lächeln, ihre Gedanken und Wünsche, ihre beendete Zukunft, aber auch ihre Fragen?

Gestehen wir Menschen mit „komplexen“ Behinderungen, einen Namen zu oder sind sie nicht nur eine biologische Diagnose, eine gesellschaftliche Last?

Zeigen wir in den Medien sonst ihre Bilder, oder ist ihre Unsichtbarkeit in Sonderwelten nicht gewollt? Wollen wir die „Normalen“ (wer auch immer das ist) nicht vor ihnen schützen?

Wo ist ihr letztes Lächeln, das zeigt, sie wollten leben, genießen und teilhaben?

Gestehen wir Ihnen individuelle, selbstbestimmte Gedanken und Wünsche zu? Oder glauben wir, es zu wissen, was gut für sie ist?

Bild: Eine Frau und ein Mann im Rollstuhl gehen mit Plakaten "Unschuldige behinderte Menschen töten. Warum?

Erlauben wir Ihnen eine Zukunft, die sie gestalten, die Veränderung und Entwicklung beinhaltet? Oder werden sie nur untergebracht, da sich diese Gesellschaft zu Zeit ein humanitäres Gesicht gibt.

… und zu ihren Fragen zu den Ereignissen werden sie nicht gehört, weil sie anscheinend unseren inhaltlichen Ansprüchen an „wichtigen Antworten“ nicht entsprechen.

Und da muss auch ich mich, als Mensch mit einer Behinderung, in vergleichsweise prädestinierter Lebenssituation (mir hören Menschen zu, ich werde oftmals ernstgenommen) an meine Nase fassen. Auch ich diskutiere in ausgewählten intellektuellen Runden über die Perspektive von Menschen mit „komplexen“ Behinderungen und weiß manchmal, was für sie gut ist.

…und ich kann es mir nicht verkneifen, die „konstruierte Täter*innenperspektive“…

Wenn wir uns mit alledem vorher Beschriebenen nicht auseinandersetzen wollen, dieses anscheinend grundlose Ereignis erklären möchten, ist die Täter*in psychisch krank. Das kennen wir von Flugzeugkatastrophen, Amokläufen und Anschlägen.

Das entschuldet anscheinend die Täter*in und entlastet die Gesellschaft. Es braucht keine Erklärung.

Keine Frage, wie kann es in der fürsorglichen Familie „Einrichtung“ zu Krisen der Mitarbeitenden kommen? Fällt es Mama und Papa (Leitung) nicht auf?

Warum handelt die Einrichtung nicht, wenn zu wenig Mitarbeitende arbeiten? Warum gibt sie den Auftrag von selbstbestimmter Unterstützung und Assistenz nicht wieder an die Gesellschaft zurück, wenn sie ihn nicht erfüllen kann?

Und ich merke es, als Mensch mit einer psychischen Beeinträchtigung, dass mich die „einfache“ Erklärung, stigmatisiert und ausgrenzt.

Ich werde meine Hindernisse in den nächsten Tagen nicht mehr thematisieren. Nicht noch, dass die Anderen Angst vor mir bekommen. Auch dieses Thema findet keinen Raum; wird nicht angesprochen.

Und die „Normalen“ und die Anderen sind auch in der Community von Menschen mit Behinderung zu finden.

Thomas Künneke

 

Bild
Blog: Morde von Potsdam, Illustration
Bild: Rollstuhlfahrer und Frau mit Schilder. Texte: „Unschuldige behinderte Menschen morden. Warum?“ und „Unser aufrichtiges Beileid“.

Thomas Künneke ist Sozialarbeiter, Systemischer Einzel- und Familientherapeut und Gründer des Vereines Kellerkinder e.V. Er ist engagiert im Vorstand des Förderkreis Gedenkort T4 e.V.