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Opferbiografie: Anna Lehnkering, Krankenhaus
Opferbiografie
Anna Lehnkering
19151940

Anna Lehnkering
aus Mülheim a.d. Ruhr (Nordrhein-Westfalen) (evangelisch)

geb. 02.08.1915 in Oberhausen/Sterkrade (Nordrhein-Westfalen)
gst. 07.03.1940 in Grafeneck (Baden-Württemberg)

Wie in vielen Familien wurde die Erinnerung an „Euthanasie“ und Zwangssterilisation auch in meiner Familie jahrzehntelang verschwiegen und verdrängt. Das änderte sich, als ich 2003 per Zufall den Namen meiner Tante Anna Lehnkering im Internet auf einer Liste [1] von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Aktion fand. Schockiert erfuhr ich, dass man Anna 1940 in Grafeneck im Rahmen der „Aktion T4“ als „lebensunwert“ ermordet hatte. Die mühsame Rekonstruktion von Annas Lebensgeschichte erfolgte auf Grundlage der bruchstückhaften familiären Erinnerungen und vor allem mithilfe ihrer Patientenakten.

Biografie erstellt am 22.01.2018, letzte Aktualisierung: 12.05.2020

 Die Recherche begann mit Annas Akte aus dem Berliner Bundesarchiv. Diese enthielt neben der Sippentafel Annas Krankenblatt aus der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau, wo sie von Dezember 1936 bis zu ihrer Deportation nach Grafeneck im März 1940 Patientin war. Weitere erhellende Hinweise gab eine Patientenakte aus der Rheinischen Provinzial Kinderanstalt für seelisch Abnorme in Bonn, wo die 16-jährige Anna 1931/1932 untersucht wurde. Natürlich muss man die Patientenakten mit Vorbehalt lesen, denn es sind Quellen, die überwiegend Sprache und Sicht der Täter widerspiegeln. Dennoch – ohne diese Akten wäre die Erinnerung an Anna für immer vernichtet gewesen. So war vieles zwischen den Zeilen zu lesen, doch im Verlauf der Spurensuche kam ein Puzzleteil zum anderen und ergab das folgende Bild von Annas kurzem Leben:

Anna kommt während des 1. Weltkrieges am 2. August 1915 als drittes Kind des Friedrich Lehnkering und seiner Frau Anna in Sterkrade (heute Oberhausen) zur Welt. Anna, die in der Familie auch Änne genannt wird, hat zwei ältere Brüder, geboren 1911 und 1913 und einen jüngeren Bruder, geboren 1920. Ihre Eltern stammen aus gutbürgerlichem Milieu im Ruhrgebiet und betreiben dort eine Gaststätte.  In Annas Patiententakte aus Bonn finden sich Hinweise auf ihre Entwicklung im Kinder- und Jugendalter. „Die Geburt verlief normal. Gehen und sprechen mit 13 - 15 Monaten. Bis zum 4. Lebensjahr entwickelte sich das Kind normal und sehr gut. 

Opferbiografie: Anna Lehnkering, Foto mit Mutter
Das Bild zeigt die vierjährige Anna mit ihrer Mutter 1919, etwa zu der Zeit als die Eltern eine Veränderung von Annas Entwicklung bemerken.

Dann merkten die Eltern plötzlich, dass das Mädchen unruhig wurde. Es kam nachts an die Tür des Zimmers der Mutter und war dann sehr verängstigt. Wurde schreckhaft, zitterte häufig am ganzen Körper.“ Als verhängnisvoll für die Familie erweist sich die Alkoholkrankheit des Vaters, die vermutlich durch das berufliche Umfeld zusätzlich gefördert wird. Der frühe Tod des Vaters 1921 ist ein schwerer Einschnitt. Vermutlich ist es kein Zufall, dass sich der gesundheitliche Zustand der damals sechsjährigen Anna deutlich verschlechtert. Als Anna 16 Jahre alt ist, wird sie in der Kinderklinik in Bonn untersucht. Die Diagnose lautet „Schwachsinn erheblichen Grades“. In Bezug auf ihren schulischen Werdegang ist zu erfahren: „Wurde von der Volksschule nach kurzer Zeit der Hilfsschule überwiesen. Kam dort aber auch nicht gut mit. Blieb in der Schule bis zum 14. Lebensjahr. Versteht alles, was man ihr sagt. Ist willig, folgsam, verträglich. Kann lesen, schreiben und rechnen, das letztere nur sehr schlecht. Ihre Schul- und Allgemeinkenntnisse werden als sehr gering eingestuft werden. Ihre Gedächtnisleistungen liegen etwa auf dem Niveau eines elfjährigen Mädchens. Gleichzeitig wird vermerkt, dass sie charakterlich gutmütig und willig sei und wohl erzieherisch in keiner Hinsicht Schwierigkeiten bereiten dürfte.

„Zu Hause kann sie ganz gut mithelfen. Kann auch Besorgungen und Einkäufe erledigen“, heißt es in der Akte. So verbringt Anna die nächsten Jahre im Elternhaus und verrichtet leichte Hausarbeiten, die in dem großen Geschäftshaushalt natürlich immer anfallen. Ihre jüngeren Brüder erleben sie in jener Zeit als ein liebes, sanftmütiges Mädchen, als hilfsbereite große Schwester, die gerne mit ihnen spielt. Bis zu Annas 19. Lebensjahr wächst sie alles in allem - trotz der vielen Arbeit und Hektik des Geschäftshaushalts - in einer behüteten Welt auf. Die 16-jährige Anna wirkt auf die Untersuchenden infantil und ängstlich. Sie wird als schüchtern, ruhig und zurückhaltend beschrieben und wirkt in allem, was sie tut und spricht außerordentlich langsam und antriebsarm.

Ein Foto der 16-jährigen Anna aus der Bonner Patientenakte.
Das Foto zeigt Anna 1935 vor dem Ev. Krankenhaus in Mülheim a.d. Ruhr, wo sie zwangssterilisiert wurde.
Ein Foto der etwa 17-jährigen Anna im elterlichen Garten.

Am 2. November 1935 wird Anna auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Ev. Krankenhaus der Stadt Mülheim an der Ruhr zwangssterilisiert. Nur ein Jahr später - im Dezember 1936 – wird sie in die Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau eingewiesen. Die Diagnose dort unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von der Bonner Diagnose. Sie lautet: „Angeborener Schwachsinn. Ursache: Erblichkeit. Die geistige Störung ist von Anfang an als Schwachsinn aufgetreten.“ Zwischen Dezember 1936 und Februar 1940 gibt es viele Eintragungen in Annas Krankenakte, die ihren seelischen und körperlichen Verfall dokumentieren. Sie sind teilweise in einer unsäglichen Sprache verfasst, weit entfernt von dem, was wir heute unter einer medizinischen Fachsprache verstehen. Zwischen den Zeilen kann man lesen, wie verzweifelt Anna gekämpft und gelitten haben muss. Am Tag ihrer Aufnahme ist sie noch ruhig und verträglich. In den ersten Wochen weint sie viel, möchte nach Hause. Dann wird sie als zunehmend schwierige Patientin beschrieben. Es heißt unter anderem: Sie „verweigert die Arbeit, hetzt andere Kranke auf“, ist „unsauber“ und „muss zur Ordnung angehalten werden“. Sie „ist weder im Schälkeller noch in der Feldkolonne zu gebrauchen“. Wie verräterisch Sprache sein kann, zeigen Vermerke wie „sie plärrt, sie ist läppisch“. Der Gipfel menschenverachtender Bemerkungen ist die Notiz, dass Anna „lästig“ sei. Weder Anna noch ihre Familie ahnen, dass Hitler im Herbst 1939 verfügt hat, man könne unheilbaren Kranken den "Gnadentod" (Euthanasie) gewähren. Im Rahmen der „Aktion T4“ werden alle Heil-und Pflegeanstalten „planwirtschaftlich“ erfasst und erhalten zu „statistischen“ Zwecken Meldebögen, anhand derer die Patienten und Patientinnen zur Tötung ausgesucht werden. Anna erfüllt die Selektionskriterien ihrer Mörder perfekt: Sie gilt als erblich krank und unheilbar, ist eine schwierige Kranke - vor allem - sie leistet keine produktive Arbeit. Damit ist sie im Sinne der NS-Rassenhygiene ökonomisch unbrauchbar, eine „nutzlose Esserin“, die als „lebensunwerter“ Mensch zur Vernichtung freigegeben werden kann.

Anna links (ca. 17 Jahre)

Anna ist eine von fast 2.000 Patientinnen und Patienten, die innerhalb weniger Tage im Rahmen von Massenverlegungen aus Bedburg-Hau „verlegt" werden, um Platz für ein Marinelazarett zu schaffen. Man deportiert sie und mehr als 450 Frauen und Männer am 6./7. März 1940 nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Anna ist 24 Jahre alt, als ihr Leben am 7. März 1940 in der Gaskammer von Grafeneck ausgelöscht wird. Sie ist eine von etwa 300.000 Menschen, die den nationalsozialistischen „Euthanasie“-Aktionen zum Opfer fielen. Das war kein „Gnadentod", sondern grausamer Massenmord. Die Opfer jedoch waren keine anonyme Masse. Sie alle hatten – wie Anna - Namen und Gesicht und jeder für sich ein einzigartiges, unwiederbringliches Leben. Es ist an der Zeit, die Geschichten dieser Menschen zu erzählen, um ihr Andenken zu ehren! Wenn aus ihrem Tod irgendetwas Gutes erwachsen könnte, dann die Gewissheit, dass sich Derartiges nie wiederholen darf!

Verfasst von Sigrid Falkenstein. Mehr Informationen auf der Webseite der Autorin

Im Interview spricht Sigrid Falkenstein über ihre Recherche zu ihrer Tante Anna Lehnkering und ihre langjährige Gedenkarbeit.

Assoziationen

Assoziationen
As­so­zi­a­tive Beziehungen und Verknüpfungen

Alle Opfer der NS-"Euthanasie"-Verbrechen haben ihre Individualität. Manche wurden jedoch aus ähnlichen Motiven verfolgt, einige teilten zum Beispiel Gewaltererfahrungen in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen. Andere wiederum wurden doppelt sigmatisiert: Weil sie als psychisch krank und behindert galten und als homosexuell und jüdisch definiert wurden.
Diesen Verknüpfungen versuchen wir mit "Assoziationen" nachzugehen. Sie ermöglichen es auch, geographische Beziehungen in unserer Datenbank zu recherchieren. Sie können also erforschen, wer am selben Ort oder Region lebte, wer in der selben Anstalt lebte und ermordet wurde.

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Literaturverweise

Ausgewählte Literatur zum Thema

Annas Spuren
2012, München

Ein Opfer der NS-"Euthanasie". Unter Mitarbeit von Prof. Dr. Dr. Frank Schneider

AutorSigrid Falkenstein
ISBN978-3-7766-2693-3

Annas Spuren in leichter Sprache
2015, Hamburg

Kurzfassung in einfacher Sprache. Übersetzung von Andreas Lindemann.

AutorSigrid Falkenstein
ISBN 978-3-944668-40-6

Die „Euthanasie" und die späte Unschuld der Psychiater
2002

- Bedburg-Hau und das Geheimnis rheinischer Widerstandslegenden

AutorLudwig Hermeler

Grafeneck 1940.
2002, Tübingen

Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland

AutorThomas Stöckle
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