
Nelli Eisele
aus Dschankoj (43)
Von Dietmar Schulze
»nach schweren familiären Erschütterungen«
Vor ihrer Umsiedlung in das Deutsche Reich lebte Nelli Eisele, geboren am 29. Mai 1927, in der deutschen Kolonie Toi-Tebe auf der Krim (UdSSR). Der Ort wurde im Jahr 1893 gegründet und zählte zur Zeit von Eiseles Geburt gerade 122 Einwohner. Zur Familie Eisele gehörten die Eltern Eduard und Eugenie sowie deren Töchter Hedwig und Nelli. Durch die Kriegswirren getrennt – die Eltern wurden »von Russen« verschleppt, Einzelheiten sind nicht bekannt – lebten die Schwestern seit dem 18. Juni1943 in einem Umsiedlungslager der Volksdeutschen Mittelstelle in Thorn [Toruń](Reichsgau Danzig-Westpreußen).
Am 26. Juni 1943 zeigte Nelli Eisele im Umsiedlungslager Anzeichen einer psychischen Erkrankung, weswegen sie umgehend in das Städtische Krankenhaus Thorn überführt wurde. Das 16-jährige Mädchen nahm, zufolge den Einträge im Krankenblatt, Tanzposen ein, war schwer erregt und reagierte gewalttätig, sobald sich ihr Ärzte und Krankenschwestern nähern wollten. Die Ärzte führten ihr auffälliges Verhalten auf die erlittenen »schweren familiären Erschütterungen« zurück. Eine Behandlung der Kranken in Thorn war unmöglich, so dass Eisele am 6. Juli 1943 mit der vorläufigen Diagnose »Psychose (Schizophrenie?)« in die Heil- und Pflegeanstalt Konradstein gebracht wurde.
In den ersten Wochen ihres Aufenthaltes in Konradstein war Nelli Eisele eine sehr unruhige Patientin. Der behandelnde Arzt notierte, dass sie zwar nicht auf ärztliche Ansprache reagiere, aber »richtig orientiert« zu sein schien. Einen Monat nach der Aufnahme in der Heil- und Pflegeanstalt, am 7. August 1943, versuchten die Ärzte, Eisele mit einer Elektroschocktherapie zu kurieren. Die Elektro-krampfbehandlung war die damals modernste Methode zur Therapie von Depressionen und schizophrenen Erkrankungen. Dabei wird mittels eines kurzen Stromstoßes ein Krampfanfall provoziert, der heiltherapeutisch wirken kann. Bei Nelli Eisele zeigte diese Methode nur kurzzeitig eine Verbesserung. Neun Tage nach dem Ende der Behandlung wurde die Patientin einer zweiten »Elektroschockkur« unterzogen. Auch dieser Versuch brachte nicht die erhoffte Verbesserung. Am 2. September 1943 notierte der behandelnde Arzt: »Erregungszustände haben etwas nachgelassen, Zustand einer formalen Ordnung ist aber noch nicht erreicht.«
Im Oktober und November wurde Eisele zum dritten Mal mit Elektroschocks behandelt. Während Nelli Eiseles Aufenthalt in Konradstein wandte sich ihre Schwester Hedwig mehrmals an die Direktion und erbat Auskunft über den gesundheitlichen Zustand. Hedwig Eisele sorgte sich um ihre Schwester und hoffte auf ein baldiges Zusammensein mit ihrer einzig verbliebenen Verwandten. Auch als Hedwig Eisele nicht mehr im Umsiedlungslager Thorn, sondern in der Nähe von Goslar (Land Braunschweig) lebte, schrieb sie weiterhin regelmäßig nach Konradstein. Nelli Eiseles psychischer Zustand zeigte jedoch kaum Verbesserung. Alle folgenden Einträge in der Krankengeschichte lauten sinngemäß »gänzlich kataton« oder »psychisch unverändert«. Eine Entlassung Nelli Eiseles zur Schwester kam deshalb nicht infrage. Erst im September 1944 trat offenbar eine Veränderung ein. Erstmals heißt es im Krankenblatt, das Mädchen sei »seit zwei Wochen psychisch geordnet« und dränge auf eine Entlassung. Nun konnte sie auch mit leichten Arbeiten beschäftigt werden. Über das weitere Schicksal Nelli Eiseles gibt die Akte keine Auskunft. Nachdem die Heil- und Pfleganstalt Konradstein im Frühjahr 1945 wieder von der polnischen Verwaltung übernommen war, trugen polnische Ärzte oder Pfleger nur noch zwei knappe Einträge in das Krankenblatt ein. Die letzte Notiz verweist auf die Entlassung der Patientin am 22. März 1945.
Auf eigenes Verlangen und ohne Angabe einer Anschrift hatte die knapp 19-jährige Nelli Eisele Konradstein verlassen. So lautete auch die Auskunft der polnischen Anstaltsverwaltung auf eine Anfrage des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes vom 29. Juli 1958, die im Auftrag ihrer noch in der Sowjetunion lebenden Eltern erfolgte. Wahrscheinlich ist, dass Nelli Eisele infolge der Kriegswirren ihr Leben verlor.1
Assoziationen
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