„Euthanasie“ im Reichsgau Wartheland
Eine Exkursion der Osteuropäischen Geschichte der Universität Gießen nach Lodz im Mai 2017
Im Rahmen eines Seminars über die Patientenmorde der Nationalsozialisten im Deutschen Reich und im Reichsgau Wartheland unternahm eine kleine Studentengruppe in Begleitung von Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg und Robert Parzer eine Exkursion nach Lodz, um sich selbst vor Ort ein Bild des Geschehens der Krankenmorde im von Deutschland besetzten Polen zu machen. Ein Nebenfokus wurde auch gelegt auf die durchaus erzählenswerte Stadtgeschichte von Lodz mit Fokus auf der jüdischen Historie. Dass Exkursionen dieser Art ein überaus guter Weg sind, Studenten und jungen Forschern die Vergangenheit nahezubringen und für ein Thema zu begeistern, soll der nachfolgende Bericht aufzeigen.
Im Rahmen eines Seminars über die Patientenmorde der Nationalsozialisten im Deutschen Reich und im Reichsgau Wartheland unternahm eine kleine Studentengruppe in Begleitung von Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg und Robert Parzer eine Exkursion nach Lodz, um sich selbst vor Ort ein Bild des Geschehens der Krankenmorde im von Deutschland besetzten Polen zu machen. Ein Nebenfokus wurde auch gelegt auf die durchaus erzählenswerte Stadtgeschichte von Lodz mit Fokus auf der jüdischen Historie. Dass Exkursionen dieser Art ein überaus guter Weg sind, Studenten und jungen Forschern die Vergangenheit nahezubringen und für ein Thema zu begeistern, soll der nachfolgende Bericht aufzeigen.
Die Patientenmorde zur Zeit des Dritten Reichs, in der nationalsozialistischen Tätersprache auch euphemistisch als „Euthanasie“ bezeichnet, sind ein Thema, das im Schulunterricht nur an wenigen Stellen begegnet: Vielleicht als kurzer Exkurs im Fach Religion in der Mittelstufe oder im Fach Geschichte in den höheren Jahrgängen – vorausgesetzt, man besucht ein Gymnasium. Straffe Lehrpläne und Zeitdruck lassen eine intensivere Beschäftigung mit diesem sehr sensiblen Thema leider nicht zu – auch in der Geschichtswissenschaft gibt es erst in den letzten Dekaden vermehrt Tendenzen, sich dieses Themas zu widmen: Und noch immer gibt es große Lücken. Es handelt sich also um ein Feld, das durchaus Brisanz birgt und mehr in den Fokus der Wissenschaft gerückt sein will. Ganz besonders gilt dies für die Patientenmorde im Reichsgau Wartheland, einem zur Zeit des Zweiten Weltkrieges dem Deutschen Reich zugeschlagenen Teil Polens.
Den Studenten aus der Region um Gießen ist das Thema jedoch nicht gänzlich unbekannt: So findet sich in der näheren Umgebung die ehemalige Tötungsanstalt Hadamar, wo weit über 14.500 psychisch Kranke, körperlich Behinderte und andere von den Nationalsozialisten als minderwertig Empfundene zuerst vergast und später systematisch durch bewusste Vernachlässigung umkamen. Die „Euthanasie“-Verbrechen in Hadamar können also in zwei Phasen eingeteilt werden: Von Januar bis September des Jahres 1941 wurden mehr als 10.000 Menschen in der Gaskammer ermordet, von 1942 bis 1945 waren es mehr als 4.500 Patienten, die vorsätzlich umkamen.

Zugegeben – es gibt „angenehmere“ Themen, mit denen man sich als Geschichtsstudent beschäftigen kann. Vielleicht schrecken solche „schweren“ Themen einige Studenten ab; Viele erwähnen, dass sie „es nicht mehr hören können“ – besonders durch die detaillierte Behandlung der Geschichte des Holocaust in mehreren Unterrichtsstufen in der Schule scheint sich bei vielen Lernenden eine ablehnende Haltung einzustellen. Dabei wird es umso wichtiger, sich mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu beschäftigen. Gäbe es einen desaströseren Fall, als den, dass sich breite Schichten der jungen Leute und der Schüler nicht mehr mit diesem unglaublichen Verbrechen befassen wollen und es irgendwann an den Rand der Geschichte verdrängt würde?
Genau deshalb war unsere Exkursion auch für Lehramtsstudenten interessant – und notwendig, denn um zu begreifen, was geschehen ist, sollte man es mit eigenen Augen gesehen haben.
Am Abend des 22. Mai verließ unser Reisebus mit 15 Studenten Gießen – die Fahrt sollte die ganze Nacht hindurch gehen. Die Gruppe war sich anfangs gänzlich unbekannt. Nur einige wenige kannten sich vorher: Man sah sich im Seminar, man nickt sich zu, man spricht kurz. Und nun werden wir uns für sieben Tage wohl sehr gut kennenlernen. Vielleicht auch angesichts des sensiblen Themas ist unsere Gruppe sehr schnell und gut zusammengewachsen.
Eine von Herrn Parzer geleitete thematische Einführung in die Materie der Patientenmorde allgemein und deren Durchführung im Wartheland als Grundlage für die nächsten Tage mündete in eine äußerst rege Diskussion und anschließend auch in persönliche Gespräche – das Interesse war geweckt.
Das Babiński-Spital (damals noch unter dem Namen Kochanówka-Krankenhaus, zur NS-Zeit dann Nord-West-Krankenhaus) in unmittelbarer Nähe der Stadt Lodz war einer der Schauplätze der „Euthanasie“ im besetzten Polen. Wie die meisten deutschen psychiatrischen Anstalten, die in die Patientenmorde verwickelt waren, ist auch das Krankenhaus bei Lodz bis heute als solches in Betrieb – was eigentlich jedem, der sich eingehender damit beschäftigt, sauer aufstoßen sollte.
In den ersten Jahren des Krieges wurden dort auf grauenvolle Weise psychisch Kranke und Behinderte ermordet. Zuerst wurde den Selektierten ein Beruhigungsmittel injiziert, daraufhin fuhr der eine Kolonne vor, die auch eine mobile Gaskammer, den Gaswagen, beinhaltete. Die Selektierten mussten Lastwägen besteigen, die zu einem nahe gelegenen Wald fuhren. Dort wurden die Patienten in den Gaswagen umgeladen, ermordet und von Mitgliedern eines aus polnischen Häftlingen bestehenden Arbeitskommandos verscharrt. Von März bis August des Jahres 1940 forderte diese Prozedur über 600 Menschenleben. Auch aus dem Ghetto Lodz sind Opfer bekannt. So wurden nach Einrichtung des Ghettos auch einige psychisch kranke und behinderte Internierte dorthin verbracht und im Zuge von Deportationen ermordet.
Bemerkenswert ist die Anbringung einer Gedenktafel am Krankenhaus – ein Prozess, der dadurch besondere Aufmerksamkeit auf sich zog, dass sich die Prozedur über drei Jahre hinzog. Interessant ist auch die Tatsache, dass sich auf der mehrsprachigen Tafel im heutigen Polen auch eine russischsprachige Inschrift finden lässt. So rückte dieses Verbrechen auch ein Stück weit mehr in den Fokus der städtischen Bevölkerung – wenn auch circa 70 Jahre später.
Eindrucksvolles Zeugnis des Alltags im psychiatrischen Krankenhaus ist eine weitestgehend erhaltene Sammlung künstlerischer Artefakte, wie Gemälde und Skulpturen von Patienten, die in der Anstalt bis heute verwahrt werden. Gerne war man bereit, uns diese zu zeigen. Sie zeichnen ein beinahe verstörendes Bild davon, wie diese Menschen den tristen Alltag in der Anstalt verarbeitet haben mussten. Keinesfalls handelt es sich dabei um naive oder einfache Kunst, sondern um beeindruckende Werke mit einer für Außenstehende vollkommen andere Sicht auf den Alltag und die Realität des Lebens. Die Portraits bestechen durch bizarre Farbgebung und Formen und wirken beinahe bedrückend, jedoch funktionieren sie wie eine Brille, die man sich aufsetzen kann, um die Welt mit den Augen eines Betroffenen zu sehen. Zu verweisen ist an dieser Stelle auf die Heidelberger Sammlung Prinzhorn, ein nach 1945 wiederentdecktes Konvolut von Artefakten der Patienten verschiedener psychiatrischer Anstalten. Erst kürzlich waren einige dieser Kunstwerke anlässlich des Festaktes zur Befreiung der Tötungsanstalt Hadamar am 26.03.1945 dort vor Ort zu sehen.
Vielleicht kann man annehmen, dass unsere Exkursion, neben neuen historischen Fakten und Eindrücken für die Studenten, für fortgeschrittenere Wissenschaftler wenig Neues zu bieten habe. Doch auch hier bot sich eine einmalige Gelegenheit: Als nach einiger Zeit, nach verschiedenen Präsentationen über die Anstaltsgeschichte und dem Besuch der Kunstsammlung, die Stimmung etwas familiärer wurde, schien die Leiterin des Krankenhauses einen echten Schatz aus dem Fundus geholt zu haben. Feinsäuberlich und detailliert wurde im Krankenhaus über Jahrzehnte ein Fotoalbum geführt, was nicht nur die Eindrücke für uns Studenten untermauerte, sondern auch für Doktoranden ausgesprochen interessant war: So fanden sich Fotos von Ärzten, von Pflegern und Tätern, deren äußere Erscheinung für deren Recherchen bis dato vollkommen unbekannt war. Und wieder einmal zeigt sich, dass, wer ein Historiker ist, nicht nur Expertise und Neugier braucht, sondern auch eine große Portion Glück – denn auch Zufallsfunde sind das, worauf man angewiesen ist.
Von besonderer Relevanz für das Gelingen der Exkursion war auch der Austausch zwischen deutschen und polnischen Studenten – so fand im Rahmen dessen auch ein gemeinsames Seminar mit polnischen und deutschen Studierenden statt, das sich mit der Geschichte des Reichsgaus Wartheland und den „Euthanasie“-Verbrechen befasste. Die Erfahrung lehrt, dass der beste Weg, um verschiedene Positionen zusammenzuführen, der direkte Dialog ist.
Neben den Patientenmorden im besetzten Polen standen aber auch andere Themen auf dem Exkursionsplan, wie einer Stadtführung allgemein, dem Besuch des Staatsarchivs, aber auch des jüdischen Friedhofs und des ehemaligen Ghettos von Lodz. Auch das Vernichtungslager Kulmhof in Chełmno wurde am letzten Tag der Exkursion besichtigt. Es war mit einer einjährigen Unterbrechung von 1941 bis 1944 in Betrieb war – zuletzt ausschließlich für die Ermordung der Juden des Ghettos der inzwischen in Litzmannstadt umbenannten Stadt Lodz.
Exkursionen mögen aufwendig sein, sie mögen auch manchmal einige finanzielle Mittel benötigen. Aber es gibt wohl keinen besseren Weg, um Studenten und zukünftigen Forschern ein Thema nahezulegen, als sie es mit eigenen Augen erfahren zu lassen. Die gesammelten Eindrücke während der Studienreise fließen sicherlich in die Hausarbeiten ein – und vielleicht auch in längerfristige Projekte. Besonders für angehende Lehrer, deren Aufgabe es sein wird, der nächsten Generation unsere Geschichte zu vermitteln, ist es mehr als ratsam, das, was sie eines Tages unterrichten werden, selbst mit eigenen Augen gesehen zu haben. Und genau das ist in sieben sehr intensiven Tagen geschehen.
Gießen, den 07.08.2017
Dominik Käßler, Student der Osteuropäischen Geschichte
Die Exkursion wurde aus Mitteln der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" gefördert.
Kategorie | Bericht |
Schlagwort | Lodz, Litzmannstadt, Besatzungsherrschaft, Polen, Gedenken, Universität Giessen, Hans-Jürgen Bömelburg |
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