Hermann Hippmann
Gastwirt aus Berlin
geb.
in
Herford
gest.
in
Bernburg
Gastwirt aus Berlin
geb.
in
Herford
gest.
in
Bernburg
Carl Hermann Hippmann wurde am 17. März 1882 geboren. Auf dem unteren Rand seiner Geburtsurkunde befindet sich folgender Vermerk: 1
Die Gedenkstätte für Opfer der NS-"Euthanasie" Bernburg bestätigt Hermanns Ermordung in der Tötungsanstalt, allerdings wurde er bereits am 23. Januar und nicht, wie oben fälschlicherweise angegeben, am 5. Februar 1941 in der Gaskammer getötet.
Hermann Hippmann, der älteste Bruder unseres Großvaters, gehört zu den 40.000 namenlosen PatientInnen aus Heil- und Pflegeanstalten, welche zwischen Anfang 1940 und August 1941 im Zuge der „Aktion T4“ ermordet und deren Patientenakten nicht aufgefunden wurden.2
Der folgende Text stellt den Versuch dar, sein Leben nachzuzeichnen.
Hermann ist das erstgeborene Kind von Johann Hermann Hippmann und Johanne Louise Magerstedt. Sein Vater Johann Hermann (*1857) hatte als ältester von sechs Söhnen des Posamentierers und Türmers Carl Traugott Hippmann und der früh verstorbenen Concordia Erdmute Beck das heimatliche Schlettau im Erzgebirge nach seiner Ausbildung zum Steindrucker jung verlassen.3
Mutter Johanne Louise (*1861) ist die älteste unehelich geborene Tochter des ebenfalls unehelich geborenen Dienstmädchens Wilhelmine („Minna“) Magerstedt aus Greußen im heutigen Thüringen. Wie schon ihre Mutter, wuchs Louise zunächst vaterlos und in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie in Pflege bei einer Näherin in Erfurt. Nach Heirat ihrer Mutter mit dem Handelsmann Carl Grimm aus Friedrichslohra bei Nordhausen lebte sie mit Eltern und ihren drei jüngeren (Halb-) Geschwistern an wechselnden Orten im Thüringischen. Um 1880 verzog die Familie nach Herford. Ihre Adresse „auf der Altstadt“ in der traditionell von Marktbeschickern, Schaustellern und Künstlern bewohnten Johannisstraße legt neben weiteren Hinweisen die Vermutung nahe, dass Louises Familie im Schaustellergewerbe tätig war.4
Als Hermann Senior und Louise im Dezember 1882 im Herforder Münster heiraten, ist er „auf der Neustadt“ als „Steinhauer“ gemeldet und sie mit ihrem ältesten Sohn schwanger. Drei Monate später wird dieser in der Johannisstraße 7 geboren und am 9. April im Münster wie seine Eltern evangelisch getauft.
Seinen Namen Carl Hermann erhält er wie üblich nach den Taufpaten: Vater Hermann Hippmann und Carl Grimm, Ehemann seiner Großmutter, sind als diese im Kirchregister eingetragen.5
Auch Hermanns nächste Geschwister (ein Bruder und drei Schwestern) werden in den Jahren 1883 bis 1890 noch in der Johannisstraße 7 geboren, Hermann verbringt seine ersten acht Jahre in der Stadt und wird wohl im Jahr 1888 in der Herforder Altstadt eingeschult.6
Sonderbar und vollkommen rätselhaft ist allerdings, dass er auf dem einzig erhaltenen Familienfoto aus dieser Zeit fehlt:
Die Aufnahme, offensichtlich von einem Fotografen angefertigt und von Hermann Senior selbst gerahmt und mit Silberrand verziert, ist vermutlich Ende 1890 aufgenommen. Es zeigt die Eltern mit vier ihrer fünf Kinder. Wie kommt es, dass der älteste Sohn nicht abgebildet ist?
Ungefähr um diese Zeit verlassen Hermann und Louise Herford und ziehen mit ihren Kindern in Richtung Solling. Im Frühjahr 1892 wird ihr sechstes Kind, ein Mädchen, in Beverungen an der Weser geboren. Ob sich die Familie länger in Beverungen aufgehalten hat oder nur auf der Durchreise war, lässt sich nicht sagen. Sicher ist, dass die Familie um 1893 im niedersächsischen Verliehausen bei Uslar eine neue, bleibende Heimat findet.
Hermann ist elf Jahre, seine Geschwister zwischen zehn und einem Jahr als die Familie Verliehausen erreicht. Sie finden zunächst auf Bauernhöfen Unterkunft, ihren Lebensunterhalt verdienen sie mit einer Schießbude, mit der sie die Region zwischen Höxter, Göttingen und Hannoversch Münden bereisen.Weitere vier Kinder (zwei Jungen und zuletzt noch ein Zwillingspärchen) kommen in den Jahren 1894 bis 1901 zur Welt.Bis 1908 sind die Eltern mit ihrem Fahrgeschäft auf Volksfesten und Kirmessen der Gegend unterwegs – mit den älteren Töchtern als Unterstützung in der „Schießhalle“ und den jüngsten Kindern am Rockzipfel. Man hält zusammen in der Familie, zahlreiche Postkarten von „unterwegs“, mit denen man sich über Umstände der Reise und gute Ankunft informiert, lassen auf ein liebevolles und fürsorgliches Miteinander schließen:
Um 1910 enden diese Fahrten: Louise (49) und Hermann (53) bauen in Verliehausen ein Wohn- und Geschäftshaus, in dem sie in den späteren Jahren einen Gemischtwarenladen („Konsum“) betreiben.
Während die jüngsten Kinder Heinrich (*1898) und die als Zwillingkind geborene Lina (*1901) im frühen Kindesalter versterben, werden Hermanns übrige drei Brüder und fünf Schwestern nahezu allesamt ein hohes Alter erreichen. Sie gründen Familien, bekommen Kinder, sind arbeitsam wie ihre Eltern, bereisen die Welt, überleben zwei Weltkriege, sehen ihre Groß- und Urgroßkinder aufwachsen und sterben im Kreise ihrer Familien, die meisten in der Umgebung des ehemaligen Elternhauses.Hermanns um 1,5 Jahre jüngere Schwester Minna verstirbt im Herbst 1917 mit nur 33 Jahren „ohne irgendwie krank gewesen zu sein“ als Ehefrau und Mutter von vier kleinen Kindern.7
Zwei seiner Geschwister zieht es wie Hermann zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Berlin: sein nächstjüngerer Bruder und seine um acht Jahre jüngere Schwester lassen sich hier als Kaufmann beziehungsweise Köchin nieder, heiraten und bekommen Nachwuchs. Beide versterben in der Stadt in den 70er Jahren, der eine im Ost-, die andere im Westteil.
Etliche Schriftstücke aus Hermanns Elternhaus lassen eine gewisse schulische Bildung und Freude am schriftlichen Ausdruck erkennen. Der Vater liest die Heimatzeitung seiner Geburtsstadt Schlettau im Abonnement und bringt in einem launigen Leserbrief sein Heimweh nach dem Erzgebirge zum Ausdruck.8
Neben dem Betreiben des „Konsums“ gestaltet der gelernte Lithograph Schmuckbilder zu Jubiläumsfeiern und kunstvolle Bilderrahmen von Familienfotos, seine ausgeprägte Handschrift vererbt er seinen Kindern.Auch von Mutter Louise wissen wir, dass diese streng frisierte Frau mit den hochgeschlossenen Kleidern neben ihrem Tagwerk in Haus, Konsum und Garten noch Briefe an ihre Kinder geschrieben hat. Man hält Ziegen, Hühner und Gänse und bewirtschaftet neben dem großen Garten einen Kartoffelacker. Wie ihre mit im Haus lebende verwitwete Mutter Minna ist Louise in Kräuterkunde bewandert. Minna verkauft als sogenannte „Hökerfrau“ noch im Alter Kräuter und Gemüse aus Eigenanbau auf dem Göttinger Wochenmarkt, inklusive 46 Kilometer Fußmarsch hin und zurück mit schwerer Kiepe auf dem Rücken.9Sie verstirbt 1915 mit 75 Jahren.
Da in der Familie kein Land vorhanden ist, welches die Nachkommen ernähren könnte, verlässt Sohn Hermann das Elternhaus früh. Nach Schulzeit und Konfirmation im Frühjahr 1896 beginnt er vierzehnjährig eine Lehre im Raum Kassel, allem Anschein nach im kaufmännischen Bereich.
Einige erhaltene Fotokarten an seine Eltern und Geschwister aus den Jahren 1896-98 zeugen von Handels- und Anzeigenfahrten, so etwa nach Halle und Leipzig zur „Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung“ im Mai 1897.
Die Ansichtskarte, mit der er 1898 Weihnachtsgrüße an die Eltern schickt, trägt den Stempel der renommierten Verlags- und Hofbuchhandlung C.Vietor in Kassel.
Es werden wohl berufliche Beweggründe gewesen sein, welche den jungen Hermann veranlassen, nach Berlin zu ziehen. Im September 1906 heiratet er 24jährig in Berlin-Mitte Anna Emilia aus dem pommerschen Hohensalza. Zum Zeitpunkt ihrer Heirat ist er als Pförtner beim Ullstein-Verlag in der Kochstraße beschäftigt und wohnt in der Wilhelmstraße 119-120, einem Gebäude, in welchem neben einem Verlag auch mehrere Buchbindereien und -druckereien ansässig sind. Seine drei Jahre jüngere Ehefrau Anna ist Dienstmädchen in Anstellung in der Charlottenburger Zietenstraße.10Das Paar bekommt 1907 und 1909 zwei Söhne, welche sie evangelisch taufen lassen. Mit dieser Fotopostkarte, auf der man Hermann als jungen Mann in schmucker Livree vor der Tür des Verlagshauses erkennt, erkundigt sich der frischgebackene Vater im Sommer 1907 nach dem Wohlbefinden seiner Eltern:
Fotos lassen vermuten, dass Hermann in den folgenden Jahren sein Auskommen hat. Diese Porträtaufnahme, wohl für die Eltern angefertigt, zeigt ihn adrett gekleidet rechts neben seinem dreieinhalb Jahre jüngeren Bruder, dem Kaufmann:
Hermanns Leben scheint allerdings von einer großen Unstetigkeit geprägt, denn Wohnorte und Arbeitsstellen wechseln in den folgenden Jahren häufig: Während er 1909 als Bürodiener in der Friedrichshaller Straße in Schmargendorf gemeldet ist, finden wir ihn bereits im Jahr darauf in den Berliner Adressbüchern als Verwalter in Treptow.11
Am Treptower Park, wo Hermann 1910 in der Klingerstraße 1 wohnt, sind in diesen Jahren alle drei Berliner Hippmanns gemeldet: neben Hermann (29) findet man hier auch den nächstälteren Bruder (26) und die bereits erwähnte Schwester (21). Ihr jüngster Bruder, unser Großvater, hat die Älteren dort besucht. Für den damals Zehnjährigen wurde die Erinnerung an seine Aufenthalte in der Hauptstadt so prägend, dass er noch im hohen Alter gern vom „Rollschuhfahren im Treptower Park“ erzählt hat. Doch auch in der Anstellung am Treptower Park hält es Hermann nicht lange, 1913 verzieht er nach Charlottenburg, wo man ihn als Verwalter in der damaligen Passauer Str.18. findet, vielleicht beschäftigt in dem „Schwesternheim ‚Ascania-Haus“ unter derselben Adresse?12
Um diese Zeit „verschwindet“ sein zweitjüngster Bruder Karl Paul aus dem Leben der Familie: 18jährig setzt sich der junge Kellner in New York vom Überseedampfer Kronprinzessin Cecilie ab: „bin ausgerückt und muss ein paar Jahre nun im Lande bleiben“.13
Karl wird Maschinist, zunächst bei der expandierenden Dosenmilchfabrik Borden Company, dann zur See. Als amerikanischer Staatsbürger kämpft er auf US-Marineschiffen sowohl in beiden Weltkriegen als auch im Spanischen Bürgerkrieg. Nachrichten von ihrem „Lumpazivagabundus“, so Vater Hermanns Spitzname für seinen Sohn, erhalten die Eltern nur in den ersten zehn Jahren.14
Im Januar 1965 dann, nach 50 Jahren Abwesenheit, kehrt der Verlorengeglaubte völlig unerwartet als Charles P. Hippman in sein Elternhaus in den Solling zurück. Es dauert eine Weile an diesem Wintertag, bis Karl/Charles seinen jüngsten Bruder, welcher das Elternhaus übernommen hatte, von seiner Identität überzeugen konnte. Karl bleibt in Verliehausen und verstirbt nach einem langen Leben auf See mit 86 Jahren in seinem Geburtsort.
Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ziehen Hermann und Anna erneut um und lassen sich in der Friedenauer Bachestraße 3 nieder, Hermann auch dort als Verwalter. Beim Fotografen Hugo Meyer in der benachbarten Rheinstraße entsteht diese seltene Familienaufnahme von Anna, Hermann und ihren beiden Söhnen:
Bei Kriegsausbruch im August 1914 sind Hermann und sein nächstälterer Bruder 32 beziehungsweise 28 Jahre alt, ihre Rekrutierung erfolgt in unterschiedlichen Regimentern: Hermann bei der Kraftwagenkolonne der 9. Kavalleriedivision, der Bruder vermutlich bei dem in Kassel aufgestellten Landwehr Infanterie Regiment Nr. 83.Von der Westfront in Frankreich senden beide Feldpostkarten mit hoffnungsvollen Lebenszeichen an die Daheimgebliebenen, informieren über Aufenthaltsorte und Befinden. So schickt Hermann im ersten Kriegsjahr unbeschwerte Ostergrüße aus dem französischen Saint-Michel an der belgischen Grenze an seine zehn Jahre jüngere Schwester Luise, welche sich einige Zeit als Dienstmädchen in der Hauptstadt aufzuhalten scheint:
Die Ansicht zeigt eine Wildsau mit Frischlingen, der Wortlaut ist mutmachend und scherzhaft. Die Frontlinie verlief Ostern 1915 nur wenige Kilometer von Saint-Michel entfernt von Soissons nach Reims. Im Herbst zuvor hatten hier in der verheerenden Schlacht an der Aisne ca. 300.000 deutsche und alliierte Soldaten ihr Leben verloren, die Truppen mussten sich erstmals unter dem starken Artilleriebeschuss auch in Schützengräben verteidigen - der Beginn des jahrelangen Stellungskriegs an der Westfront.
Ob Hermann an diesen Kämpfen teilgenommen hat, lässt sich heute nicht mehr in Erfahrung bringen, da Unterlagen aus seiner Militärzeit nicht erhalten sind.15
Seine Karte trägt den Stempel „Kavallerie Kraftwagen Colonne“, was auf einen Einsatz hinter der Frontlinie schließen lassen könnte. Sein Bruder, mit der 3. Armee in der Gegend von Soissons, sendet zur selben Zeit Lebensnachrichten an seine Eltern und schließt mit „von Hermann habe ich auch nichts gehört“.
Im Juli 1917 berichtet er auf dieser Fotopostkarte von einem „Streifzug tief in den Argonnen“:
Auf den Feldpostkarten der Brüder ist das bekannte Unvermögen der Soldaten, den Daheimgebliebenen die erlebten Schrecken des Krieges mitzuteilen, spürbar. Sie berichten über Alltägliches, drücken ihre Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende aus und bitten um Neuigkeiten aus der Heimat.Auch in der Heimat sehnt man sich nach einem Ende des Krieges: „Wollen hoffen das wir alle auch ferner gesund bleiben und das uns das neue Jahr den Frieden bringt“, schreibt Hermanns Schwester Marie den Eltern zum Jahreswechsel 1917/18.
Von Hermann ist nur eine Feldpostkarte erhalten. Wo er sich nach Ostern 1915 aufgehalten hat und wann er wieder zu seiner Familie fand, wissen wir nicht. Beide Brüder kehren äußerlich unversehrt nach Kriegsende heim. Ob sich Hermanns spätere Erkrankung auf eine Ansteckung in dieser Zeit zurückführen lässt, ist unbekannt.
Zurück in Berlin orientiert sich Hermann erneut beruflich um. Wie Vater und Bruder versucht er sich als Kaufmann und arbeitet mit seinem Bruder in dessen Gemischtwarenhandlung. Karl, ihr kleiner Bruder, wünscht hierzu aus New York gutes Gelingen: „Hermann ist also nicht mehr an der Post, ist also auch im Geschäft und hoffendlich auch mit dem besten Erfolg.“16
Dieser scheint sich jedoch nicht eingestellt zu haben, denn schon 1920 Jahr trennen sich die Wege der Brüder wieder und Hermann eröffnet einen Gemüsehandel am mondänen Kaiserplatz, dem heutigen Bundesplatz:17
Sein Geschäft befand sich im Gebäude rechts neben dem damals beliebten Speiserestaurant „Pilsator“ an der Ecke Kaiserplatz/Detmolder Straße. Nach der enormen städtebaulichen Umgestaltung des Kaiser- bzw. Bundesplatzes in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg befindet sich heute an dieser Stelle der Neubau der Berliner Volksbankzentrale. Dies Foto zeigt den Platz im Jahr 1918:18
Doch auch diese Beschäftigung ist nicht von Dauer, nur ein Jahr später wechselt Hermann ein weiteres Mal sein Tätigkeitsfeld. Sind es die äußeren Bedingungen im Berlin der frühen 20er Jahre, die stetig steigenden Arbeitslosenzahlen und die hohe Inflation, welche Hermann zu so einem unsteten, wechselhaften Berufsleben zwingen oder liegt es an einem umtriebigen, rastlosen Gemüt? Kein anderes seiner Geschwister blickt auf ein derart wechselhaftes Berufsleben mit so vielen verschiedenen Meldeadressen zurück.
Von 1922 an lautet seine Berufsbezeichnung in allen Unterlagen „Gastwirt“, allerdings wird Hermann in den folgenden sieben Jahren vier verschiedene Lokale betreiben: Zunächst führt er eine Gaststätte in der Maxstraße 29, der heutigen Kärtnerstraße in Schöneberg. Von 1923 bis 1927 betreibt er ein Restaurant in der Westfälischen Str. 6 in Wilmersdorf. Auf dieser Fotopostkarte sieht man ihn ganz links im Kreise seiner Kumpane im Garten dieses Restaurants:
Es ist das letzte uns bekannte Foto von Hermann und die einzig spontane, nicht professionell angefertigte Aufnahme von ihm. Wer hielt den Moment fest? Wir blicken in lächelnde Gesichter, die Stimmung ist gelöst. Hermann, wohlgenährt, trägt Dreiteiler mit Nadelstreifenhose zu weißer Jacke. Liegt auf seinem rechten Bein die Hand einer neben ihm sitzenden Person? Handelt es sich bei den jungen Männern im Hintergrund wohl um seine Söhne? 1928 dann ist auch die Wilmersdorfer Zeit vorbei, Hermann führt ein Restaurant mit angeschlossenem Keglerheim an der Ecke Lauenburger Straße/Feuerbachstraße. Diese Eckkneipe ist auch heute noch vorhanden, an den früheren Gastwirt erinnert dort nichts.
Sein letzter Eintrag im Berliner Adressbuch ist 1929 die Belle-Alliance-Str. 21a in SW 61, heute Mehringdamm 62 in Kreuzberg:19
Gastwirtschaft und Wohnung der Familie befinden sich im gleichen Gebäude. Im Eckhaus rechts nebenan eröffnet im selben Jahr der „Germania-Palast“, ein Kino mit 215 Plätzen, in dem drei Musiker die Stummfilme begleiten.
Auf diesem Foto aus dem Jahr 1935 gut zu erkennen sind das Kino, nun unter dem Namen „Belle-Alliance-Lichtspiele“, das Werbeplakat für den Film „Der falsche Fuffziger“ mit Theo Lingen und die angrenzenden Zigarren-, Blumen- und Juweliergeschäfte.20 Die Markise am linken Bildrand beschattet das Lokal, welches Hermann sechs Jahre zuvor noch bewirtschaftet hatte. Bald hundert Jahre später wird dort immer noch gefeiert, heute in der bunten und alteingesessenen Kreuzberger Nachtbar „Rauschgold“, „where the night never ends.“21- Hermann Hippmann hätte dies wohl gefallen.
Am 23. März 1929, sechs Tage nach seinem 47. Geburtstag, wird Hermann Hippmann, Gastwirt, Ehemann und Vater zweier inzwischen erwachsenen Söhne, in die psychiatrische Anstalt „Wittenauer Heilstätten“ in Berlin aufgenommen. Unter welchen Umständen dies geschieht, wissen wir nicht, denn Hermann gehört zu den 40.000 namenlosen Opfern der NS-Patientenmorde, deren Krankenakten nicht mehr auffindbar sind.
Es waren nur beiläufig geäußerte Andeutungen innerhalb der Familie, die uns wissen ließen, dass Hermann an Neurosyphilis erkrankt war.22
Über Zeitpunkt der Ansteckung, Ausbruch und Verlauf der Erkrankung ist nichts bekannt. Heute haben wir Gewissheit, dass er die letzten 12 Jahre bis zu seiner Ermordung im Januar 1941 dauerhaft in psychiatrischen Anstalten untergebracht war.
Da außer Aufnahme- und Entlassdaten keinerlei Aufzeichnungen zu seinem Schicksal auffindbar sind und Familienmitglieder nicht mehr befragt werden können, stützt sich der Versuch, im Folgenden seine letzten Lebensjahre nachzuzeichnen, vor allem auf Beschreibungen der Zustände in den Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit und allgemeine Schriftstücke.
Die bakterielle und hochinfektiöse Geschlechtskrankheit Syphilis oder Lues war zu Beginn des 20.Jahrhunderts die verbreitetste Geschlechtserkrankung, im 1. Weltkrieg galt sie als Massenphänomen unter den Soldaten. War man angesteckt, verlief die Erkrankung sehr unterschiedlich, ein Ausbruch der Symptome war auch Jahre oder gar Jahrzehnte nach Ansteckung möglich und äußerte sich zunächst in Hautveränderungen. Unbehandelt entwickelte sich bei circa einem Drittel der Erkrankten dann eine Spätsyphilis:
„Bleibt das Stadium der sekundären Syphilis unbehandelt, kann nach einer bis zu mehreren Jahren dauernden Phase ohne Symptome (Latente Syphilis) das dritte Stadium der Krankheit auftreten, in dem verschiedene Organsysteme (Gehirn, Nervensystem, Augen, Herz, Blutgefäße, Leber, Knochen, Gelenke) betroffen sein können und es über viele Jahre hinweg zu schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen kommen kann. Im Fall einer Neurosyphilis im Tertiärstadium kommt es zu fortschreitendem Abbau von Nervengewebe im Gehirn oder Rückenmark.“23
Die Folgen hiervon sind Reiz- und Lähmungserscheinungen sowie gravierende Persönlichkeitsveränderungen bis hin zur Demenz.Man versuchte, die Krankheit durch Quecksilberanwendungen zu bekämpfen, aber diese und auch alle weiteren Behandlungsansätze waren zeitlich langwierig, aufwendig, aufgrund der langen Klinikaufenthalte kostspielig und zudem nur im Anfangsstadium der Erkrankung erfolgsversprechend.
Heilbar wurde Syphilis erst durch die Entdeckung des Penicillins im Jahr 1928, allerdings profitierten Erkrankte wie Hermann nicht von diesem Medikament, denn aufgrund der hohen Kosten war das Antibiotikums zunächst nur dem Militär vorbehalten.24
Da die mit der Erkrankung einhergehenden spezifischen Hautveränderungen kaum zu kaschieren waren, litten die Betroffenen außerdem an einer zunehmenden gesellschaftlichen Stigmatisierung. Weitverbreitet war außerdem die Annahme, dass Syphilis als sexuell übertragbare und meldepflichtige Geschlechtskrankheit auf einen ausschweifenden und promisken Lebenswandel hindeutet und damit quasi selbstverschuldet war.
Spätestens in der NS-Zeit dann fand eine zunehmende Politisierung des Begriffs „Syphilis“ statt: Bereits im 1916 publizierten "Mein Kampf" beschwört Adolf Hitler die Gefahr der "Versyphilitisierung des Volkskörpers" und beschreibt die "Bekämpfung der Syphilis als die Aufgabe der Nation".25
1939 schließlich wird die ZNS-Paralyse als Spätfolge einer nicht auskurierten Syphilis im Euthanasie-Erlass in die Liste zu verfolgenden Krankheiten und Behinderungen aufgenommen.26
Mit Hermann sind zu der Zeit in den Wittenauer Heilstätten an der Reinickendorfer Oranienstraße knapp 1700 PatientInnen untergebracht, ärztlicher Leiter der Anstalt war Emil Bratz.27Die progressive Paralyse, d.h. die fortschreitende Lähmung im Rahmen einer unbehandelten oder nicht ausgeheilten Syphilis-Erkrankung, war in den 20er Jahren in Wittenau wie in anderen Psychiatrieanstalten die häufigste geistige Erkrankung.28 Zum Zeitpunkt von Hermanns Einweisung hatten auch die Wittenauer Heilstätten als älteste und renommierteste „Irrenanstalt“ Berlins in der 4,3 Millionen-Metropole mit Überbelegung, Mangelwirtschaft und Personalknappheit zu kämpfen.29 Gegründet wurde die psychiatrische Einrichtung 1880 auf einem 45 Hektar großen Gelände als "Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf“, Mitte der Zwanzigerjahre wurde sie in "Wittenauer Heilstätten" umbenannt. Die später als "Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik" - oder im Volksmund „Bonnies Ranch“ - bekannte Psychiatrie wurde 2001 Teil des aktuellen Vivantes Humboldt-Klinikums.Die Anordnung der Gebäude im üblichen „Pavillon-System“ trennte entlang einer Mittelachse Männer- und Frauenhäuser, die Belegung der Häuser erfolgte gestaffelt nach Schweregrad der Krankheit bzw. Dauer des Aufenthaltes der PatientInnen:
Die massiven, langgestreckten und mit gelbem Backstein verblendeten Gebäude waren durch hohe Mauern oder Eisengitter miteinander verbunden, so dass diese interne gefängnisarte Struktur eine die gesamte Anlage umlaufende Mauer unnötig machte.30
In der benachbarten „Nervenklinik Wiesengrund“, wo an Syphilis Erkrankte recht erfolgreich mit Malariaerregern und Fiebertherapie behandelt werden, findet Hermann keine Aufnahme. Er gelangt, wie man dem Eintrag aus dem Aufnahmebuch entnehmen kann, unter der Aktennummer 365 in „Haus 5“ der Wittenauer Heilstätten:31
„Haus 5“ ist das „Feste Haus“ gewesen, in dem auch in Wittenau als aggressiv und gefährlich geltende männliche Kranke und in der Haft erkrankte Straftäter gemeinsam verwahrt wurden:
„Die Belegung der „Festen Häuser“ umfasste also kriminelle und nichtkriminelle Patienten und unterschied sich somit von den heutigen rein forensischen Abteilungen in psychiatrischen Einrichtungen. Es handelte sich zudem fast ausschließlich um Einrichtungen für die als besonders gefährlich und renitent geltenden männlichen Patienten […].“32 Besonders gefährlich und renitent“? – Es gibt keine Erzählung in unserer Familie, welche über ein derartiges Verhalten Hermanns berichtet.
Ob Hermann noch Einsicht in die Notwendigkeit einer psychiatrischen Behandlung hatte und sich freiwillig in die Anstalt begeben hat oder ob tatsächlich eine irgend geartete Einweisung durch Angehörige, Amtsarzt oder gar Polizei nötig war, lässt sich heute nicht mehr in Erfahrung bringen.33
Allerdings deutet die Tatsache, dass er nicht wie eigentlich üblich in das „Aufnahmehaus“, sondern gleich in das „Feste Haus“ überstellt wurde, auf eine besondere Dringlichkeit hin, denn dies geschah in Wittenau nur sehr selten.
„Dem Charakter des Hauses entsprechend erfolgte die Einweisung auf Haus 5 in den meisten Fällen auf Veranlassung der Polizeibehörden (bzw. des Amtsarztes) oder durch die Gerichte, in 16 von 27 Fällen als Verlegung aus einem Gefängnis.“34
Was war passiert an diesem Sonnabend, den 23. März 1929?In seiner Abendausgabe berichtet das Berliner Tageblatt über die Senkung der Einwanderungs-Quote und den geplanten Mittelmeerflug des Luftschiffs „Zeppelin“, im Kommentar wird angesichts der bevorstehenden Wahlen vor der drohenden Diktatur in Italien gewarnt, auf dem Tempelhofer Feld stürzt ein Sportflugzeug aus nicht bekannten Gründen ab und im Komödienhaus wird inmitten der Weltwirtschaftskrise Brechts „Dreigroschenoper“ vom Publikum gefeiert. Es herrscht „kalendermässiges Frühlingswetter“ mit milden 13 Grad, als Hermann nach Wittenau verbracht wird.35 Wer hat Hermann auf seinem Weg in die Anstalt begleitet? Hatte er am Vorabend mit Ehefrau Anna (43) und seinen Söhnen (22 und 19 Jahre) noch seine Gaststätte betrieben? Was war vorgefallen, das eine Einweisung nötig machte? Der unleserliche Eintrag im Wittenauer Aufnahmebuch erklärt es uns leider nicht. Die Zustände dagegen, welche er in der Anstalt vorfand, sind dank einiger Studien einigermaßen bekannt: Zum Zeitpunkt seiner Aufnahme war „Haus 5“ ein Gebäude, welches auch aufgrund von Protesten in der Bevölkerung in den Jahren zuvor besonders gesichert worden war. Waren die Ärzte der Wittenauer Heilstätten zunächst für ihren sehr liberalen Umgang mit straffällig gewordenen Kranken bekannt gewesen, so hatte die Bevölkerung anlässlich einiger aus der Anstalt entflohener Patienten auf Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen gedrungen:
„Dieser Druck erzwang schon 1883 die Errichtung eines „festen Hauses“, d.h. die zusätzliche Befestigung des Krankenpavillons V mit Eisengittern an den Fenstern, einer hochgezogenen Umfassungsmauer, der Verdreifachung des Wachpersonals, allerdings auch der Erweiterung der Beschäftigungsmöglichkeiten und der Verteilung auf kleinere Schlafräume mit 3 bis 4 Patienten pro Raum.“36
37
Weitere bauliche Sicherungsmaßnahmen wurden nach einer Häftlingsrevolte im Jahr 1899 durchgeführt: Haus 5 bekam einen zusätzlichen Anbau mit zwei weiteren Schlafsälen, sowie zahlreichen Einzel- und Isolierzellen. Trotz inzwischen vorgenommener baulicher 18 Modernisierungsarbeiten galt die Unterbringung der Kranken in den 20er Jahren nach wie vor als mangelhaft.38 Die ersten acht Tage wird Hermann wie alle Erkrankten nach Aufnahme im Bett verblieben sein, denn „die konsequente Bettbehandlung“ hatte sich um 1900 durchgesetzt. Sogenannte Wachsäle waren entstanden, Ruhe galt neben Beschäftigung als wichtigste therapeutische Maßnahme.39
Da vor Entdeckung der Psychopharmaka in den 50er Jahren überhaupt nur wenige Medikamente zur Behandlung psychisch Kranker zur Verfügung standen, wurden vor allem Sedativa verordnet und Dauerbäder eingesetzt. Hierbei lagen die PatientInnen in eigens dafür eingerichteten Badesälen bis zu 14 Stunden lang in 32-37 Grad warmen Wasser. Führten diese Maßnahmen nicht zum gewünschten Erfolg, blieb die Isolierung der Erkrankten oft als letztes Mittel.
Achtzehn Tage später scheint sich Hermanns Zustand so stabilisiert zu haben, dass man ihn nach Haus 1 verlegt:40
Ein wenig „Normalität“ in der Anstalt wird sich durch den Wechsel in das offene Haus, in dem „ruhige und arbeitsfähige Männer“41lebten, wohl für ihn eingestellt haben. Konnte er in dieser Zeit wie die übrigen Erkrankten noch einer sinnvollen Beschäftigung in Feld, Garten, Haus und anstaltseigenen Werkstätten nachgehen? 10 Pfennig bekamen die Männer für jeden sechsstündigen Arbeitstag, nebst Bier und Rauchwaren – Hermann als Zigarrenraucher wäre diese Zuwendung sicher willkommen gewesen.42Gut drei Monate später jedoch, am 30.Juli 1929, wird er erneut in die geschlossene Abteilung verbracht – diesmal dauerhaft bis zu seiner Verlegung im September 1930.
Hermann ist bereits 15 Monate in der Anstalt, als sein Vater Johann Hermann Hippmann 73jährig nach einem langen und arbeitssamen Leben im Juni 1930 in Verliehausen verstirbt. Als ältestes Kind wird Hermann Junior als einziges der sieben noch lebenden Geschwister bei der Beerdigungsfeier des Vaters fehlen. Auf dem Foto, welches an diesem Tag vor der Schoninger Kirche aufgenommen wurde, steht an seiner Statt sein jüngster Sohn mit damals 21 Jahren.
Nur drei Jahre darauf, im Dezember 1933, folgt Mutter Louise ihrem Ehemann – laut Todesanzeige „nach längerem, mit großer Geduld ertragenem Leide“.43 Louise befand sich in ihrem 73. Lebensjahr, tags darauf hätte sich ihre Hochzeit zum 50. Mal gejährt.
Auch in Berlin schließt sich ein Kapitel: Anna und ihre Söhne verlassen die Wohnung in Kreuzberg mit unbekanntem Ziel und finden ab 1933 in Berlin-Wittenau eine neue Heimat. Hermanns Gaststätte in der Belle-Alliance-Straße 21a übernimmt 1930 laut Adressbucheintrag ein Hermann Henken.
Nach 18 Monaten Aufenthalt in den Wittenauer Heilstätten wird Hermann am 30. September 1930 in die Landesanstalt Neuruppin verlegt und dort die letzten zehn Jahre seines Lebens verbringen.
Die südlich von Neuruppin in der Nähe des Dorfes Treskow gelegene Anstalt zur „Irrenbetreuung“ wurde Ende des 19. Jahrhunderts erbaut.44Die streng symmetrisch angeordneten Bewohnerhäuser um das zentrale Hauptgebäude waren unterteilt in je vier große Männer- und Frauenhäuser. 250 Hektar landwirtschaftliche Fläche zur Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln umgaben die Anlage, ein eigener Bahnanschluss (67 km von Berlin Stettiner Bahnhof) und ein kleiner Hafen zur kostengünstigen Anlieferung von Steinkohle boten gute Bedingungen.Vor allem diese exzellente Verkehrsanbindung prädestinierte die Anstalt zur Teilhabe an den späteren NS- „Euthanasie“-Verbrechen. Die Klinik mit eigener Kirche und Friedhof besaß Werkstätten wie Wäscherei, Schmiede, Stellmacherei, Tischlerei, Klempnerei, Sattlerei, Schneiderei, Schuhmacherei und Glaserei, in denen die PatientInnen wie auch auf dem angrenzenden Gutshof als billige Arbeitskräfte tätig waren. Der gefängnisartige Charakter war bereits von außen sichtbar: das gesamte Gelände umgaben hohe rote Backsteinmauern, die „Auslaufgärten“ für die PatientInnen waren mit Toren verriegelt und von Drahtzäunen umschlossen, die Fenster aller Räume vergittert.
Da seit Mitte der 20er Jahre die Unterbringung von PsychiatriepatientInnen in der stetig wachsenden Hauptstadt trotz der dort ungefähr 7000 zur Verfügung stehenden Betten nicht mehr zu bewältigen war, während in den Anstalten der Provinz ein Bettenleerstand herrschte, entschied man 1924 die regelmäßige Verlegung vor allem chronisch kranker PatientInnen nach Brandenburg. Die Kosten ihrer Betreuung und Versorgung hatte dabei weiterhin Berlin zu tragen. Diese Berliner Kranken, „Schiedsspruchkranke“ genannt, wurden in Neuruppin in der „Berliner Seelenliste“, einem dicken, alphabetisch geordneten Aufnahmebuch, gesondert erfasst.45Hierin ist dokumentiert, dass Hermann mit dem Aktenzeichen 993 am 30.09.1930 aufgenommen und am 23.1.1941 „entlassen“ wird. Über zehn Jahre wird er Patient in Neuruppin sein. Was er in dieser ungewöhnlich langen Zeit dort durchlitten hat, wie seine Krankheit verlief und ob und wie er behandelt oder besucht wurde, wird unbekannt bleiben. Einen umfassenden allgemeinen Einblick in die Landesanstalt Neuruppin gewährt Schulze mit seiner Dokumentation „Die Landesanstalt Neuruppin in der NS-Zeit“ und die von den Neuruppiner Kliniken im Jahr 2000 herausgegebene Schrift „Über allem wacht der Rote Max“.46
Folgendes erfahren wir aus diesen Schriften über das Leben in der Anstalt:Bei Hermanns Ankunft befanden sich bereits rund 2000 PatientInnen in Neuruppin, je eine Pflegekraft betreute im Durchschnitt sieben kranke Personen. Die Unterbringung erfolgte je nach Schwere des Krankheitsgrads in unterschiedlichen Häusern:Im Haus C, dem offenen Haus, lebten neben Patienten mit einem schwach ausgebildeten Krankheitsbild auch „Schwachsinnige und Epileptiker“. Dank der Erinnerungen der ehemaligen Pflegerin Magdalena Strahl ist einiges über die Verhältnisse auf den Stationen überliefert: Die kargen Schlafräume beherbergen jeweils 15 bis 20 streng angeordnete Betten, weiteres Mobiliar wie Nachtschränke o.ä. ist nicht vorhanden. Auch die Tagesräume sind spartanisch ausgestattet:
„Die Wände waren bis zur halben Höhe mit Ölfarbe versehen. Gardinen, Blumen oder Bilderschmuck gab es aus Sicherheitsgründen nicht. An langen Tischen standen von beiden Seiten schwere hochlehnige Bänke. […] Das Geschirr bestand aus Blech oder Aluminium. Zum Essen gab es nur Löffel.“47
In den ebenfalls primitiv eingerichteten Waschräumen befinden sich in einer beidseits an den Wänden montierten langen schwarzen Marmorplatte ein Dutzend kleine Waschbecken ohne Stöpsel. Zur gründlichen Körperpflege ist alle vierzehn Tage ein Vollbad vorgesehen.
Unruhige Kranke werden im Haus C für ein bis zwei Tage in „Zellen“ genannten Einzelzimmern isoliert. Hier sind die Fenster so hoch angebracht, dass ein Hinausschauen unmöglich ist. Als Bettstatt dient ein Strohsack mit Decke, die Kleidung besteht in einer Art Zwangsjacke aus grobem Leinen mit Schloss am Halsbund. Das Essen wird in einem Blechnapf auf die Erde gestellt.
Hat auch Hermann hier Tage verbracht?
Werden die Patienten bettlägerig, verlegt man sie in Haus B, „Siechenhaus“ genannt. Im besonders gesicherten Haus D schließlich sind Geisteskranke verwahrt, welche als gemeingefährlich oder kriminell gelten. Hier ist „die Mauer noch ein wenig höher“, liest man im Buch „Und über allem wacht der Rote Max“. Über Unterbringung, Behandlungsmethoden und Tagesroutinen in diesem Haus findet man keinerlei Informationen in dem ansonsten detailreichen und üppig bebilderten Werk.48
An anderer Stelle wird berichtet, dass im Jahr 1912 im Haus D 36 Kranke beherbergt wurden, welche von elf Pflegern und einem Oberpfleger betreut wurden. Neben der Vergitterung der Fenster und der das Haus umgebenden besonders hohen Mauer trugen eiserne Gittertüren im Treppenhaus zur Sicherheit bei.49
Eine 1910 vom damaligen Direktor Dr. Richstein in Neuruppin handschriftlich verfasste „Dienstanweisung für die Wärter des Festen Hauses“ gibt Einblicke in den Alltag der Sicherheitsverwahrten: Die Männer sind, wenn auch möglichst unauffällig, so doch ständig zu beobachten, selbst beim Toilettengang und beim Schlafen. In den Schlafsaal bzw. die Einzelzelle dürfen außer Taschentuch und Pantoffeln keine weiteren Gegenstände mitgenommen werden, auch Brillen nicht.50
Aber auch die Patienten im festen Haus arbeiten, in den hauseigenen Werkstätten, im Garten und vor allem an den berühmten Neuruppiner Bilderbögen. Hierbei handelt es sich um in hoher Auflage gewerbsmäßig produzierte Lithografien, welchen besonders kostengünstig auch von den Insassen der Landesanstalt Neuruppin in aufwendiger Weise per Hand koloriert werden.51 Strengstens unterbunden werden soll jedoch die Angewohnheit der Männer, allerlei aus Papier gefertigte Kunstwerke in Tagesräumen oder Werkstatt aufzuhängen, da diese als Waffenverstecke dienen konnten.
Auch Hofgang, „Promenadenbesuch“ genannt, ist erlaubt, allerdings unter den allerhöchsten Sicherheitsvorkehrungen. Gegessen wird mit Pappgeschirr und mit Holzlöffel, Hemdsärmel sind nicht gestattet.
Es ist nicht mehr in Erfahrung zu bringen, in welchem der Häuser Hermann all die Jahre untergebracht war. Einiges spricht jedoch dafür, dass er als Patient aus einem festen Haus bei seiner Überstellung nach Neuruppin zumindest eine Zeitlang auch in der dortigen Anstalt in Sicherungsverwahrung war.
Nach 1929 verschlechtern sich die Lebensbedingungen aller Kranken in Neuruppin drastisch, denn unter der Weltwirtschaftskrise und den sich daraus ergebenden politischen Notverordnungsmaßnahmen leiden PsychiatriepatientInnen und PflegeheimbewohnerInnen besonders hart: Aufgrund mangelnder Interessenvertretung sieht man bei ihnen einen idealen Weg, die eingeforderten Sparmaßnahmen umzusetzen. Menschen wie Hermann, welche „unproduktiv sind und der Allgemeinheit Lasten aufbürden“52bekommen die Auswirkungen des Sparkurses besonders schmerzlich zu spüren. Die drastische Senkung der Pflegesätze zieht Personalabbau, Mehrarbeit und vor allem eine schlechtere Versorgung der PatientInnen nach sich. So sinkt der Verköstigungssatz von ehemals 0,64 Reichsmark pro Tag auf nur noch 0,45 Reichsmark im Jahr 1933. „Zusätzliche Mahlzeiten und Diätkost wurden gestrichen und die Mahlzeiten so weit wie möglich vereinfacht.“53
Mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verschlechtert sich die Situation für die Kranken in Neuruppin noch einmal erheblich.
Im Bestreben, politisch Andersdenkende des Amtes zu entheben und langjährige NSDAP-Mitglieder in Stellung zu bringen, entlässt man 1934 den bisherigen Neuruppiner Anstaltsleiter Wilhelm Arens und stellt neues, parteikonformes Pflegepersonal wie den ehemaligen Schmied Ernst Zierke ein, welcher später die „T4-Aktion“ mit koordinieren wird.
Unter dem neuen Direktor, dem bisherigen Oberarzt Georg Brandt und seinem Nachfolger Herbert Meyer (ab 1937) sollen circa ein Drittel der insgesamt 450 in der Anstalt beschäftigten Personen Mitglieder der NSDAP gewesen sein, darunter sämtliche fünf Oberpfleger, vier Oberpflegerinnen und sechs der angestellten acht Ärzte.
Neben der Unterbringung und Versorgung der PatientInnen kam der Landesanstalt Neuruppin zunehmend auch die Aufgabe zu, bei im Ort stattfindenden nationalsozialistischen Partei-, Sport- und Spielveranstaltungen Quartier und Verpflegung zu organisieren und Pflegepersonal und Ärzte als Helfer abzustellen. Da diese neben ihrem Dienst und den parteipolitischen Aktivitäten noch Lehrgänge in Erbpflege, Rassenkunde und ähnliches zu besuchen hatten, „treten sofort die Schwierigkeiten klar zu Tage, welche in organisatorischer Hinsicht zur Aufrechterhaltung des Dienstbetriebes – und zwar vor allem auf der Männerseite – gelegentlich zu lösen sind.“54
Auch Hermann wird diese Mangelversorgung schmerzlich zu spüren bekommen haben. Von den in der Landesanstalt durchgeführten Sterilisationen, welche das am 1. Januar 1934 erlassene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ermöglicht hatte, wird der inzwischen 51Jährige vermutlich verschont worden sein, denn als Syphiliskranker zählt er nicht zu den Erbkranken. Zudem wurden zwar mehr als 80% aller Neuruppiner PatientInnen als erbkrank eingestuft, nur 4% von ihnen jedoch sterilisiert. Es ist anzunehmen, dass der Grund hierfür unter anderem in der auffällig niedrigen Entlassrate in Neuruppin liegt.
Aus einer Stellungnahme des damaligen Anstaltsleiters Brandt wird die perfide Umkehr einer ursprünglich am Wohl der Kranken orientierten Medizin unter den Nationalsozialisten deutlich: Nicht „die Patienten sollten geschützt werden, sondern die Gesunden. Das ‚Asylieren‘ der ‚Irren‘ in Anstalten diente der Verminderung des verderblichen Einflusses, den diese angeblich ausüben würden.“55Unter Brandt sind auch InsassInnen in der Anstalt verblieben, bei denen aus medizinischer Sicht nichts gegen eine Entlassung sprach. So wurden aus Kranke Gefangene, deren Arbeitskraft im Alltag des Krankenhauses unentbehrlich war.
Gehörte auch Hermann zu diesen Arbeitssklaven oder war er aufgrund seiner Erkrankung bereits arbeitsunfähig?
Neben ihrer erbbiologischen Erfassung durch die nationalsozialistische „Hauptstelle für Erb- und Rassenpflege“ erwecken die PatientInnen der Neuruppiner Anstalt auch das Interesse anerkannter wissenschaftlicher Institutionen. So werden zwei Neuruppiner Assistenzärzte aufgrund ihrer Untersuchungen der Anstaltsinsassen zu Doktoren der Medizin promoviert.
Aus dem Institut für Psychiatrie der Universität München bittet der NS-Rassenhygieniker Ernst Rüdin mit Nachdruck um Übermittlung von Patientenakten für seine Erforschung symptomatischer Psychosen im Rahmen der nationalsozialistischen Erbgesundheits- und Vererbungslehre. Im Februar 1937 kommt Direktor Meyer dieser Bitte umgehend nach und versendet die geforderten Unterlagen seiner Schützlinge nach München.56 Ob sich Rüdin auch für Hermanns Krankengeschichte interessiert hat, kann heute leider nicht mit Sicherheit gesagt werden, die verschickten Dokumente sind im archivierten Nachlass Rüdins nicht verwahrt.57
Im Frühjahr 1939 wird die Ehe zwischen Hermann und Anna geschieden. Ein amtlicher Vermerk hierzu findet sich auf ihrer Heiratsurkunde aus dem Jahr 1906:
„Durch das am 9. April 1939 rechtskräftig gewordene Urteil des Landgerichts Berlin 243R.373/38 ist die Ehe zwischen dem Karl Hermann Hippmann und der Anna Emilie […] geschieden worden.“58
Die Eheleute sind zu diesem Zeitpunkt bereits 53 und 56 Jahre alt und es stellt sich die Frage, zu welchem Zweck und auf wessen Betreiben hin ihre Ehe geschieden wurde.
Das Scheidungsurteil, welches Aufschluss über die Umstände geben könnte, ist nicht erhalten.59
Letztendlich ist es aber unerheblich, ob Hermann als langjähriger Anstaltspatient in diese Scheidung eingewilligt hatte: Dank des im Sommer 1938 erlassenen NS-Ehegesetzes war es einem Ehepartner auch wider den Willen des anderen möglich, die Scheidung bei tiefgreifender und unheilbarer Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses zu beantragen. Die Bedingung, dass die häusliche Gemeinschaft der Eheleute seit drei Jahren aufgehoben sein musste, war bei Hermann und Anna ja längstens erfüllt.60 Nach dem 1935 erlassenen „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“, kurz „Ehegesundheitsgesetz“, hätte Hermanns Erkrankung vermutlich bereits die Eheschließung unmöglich gemacht. Ganz erstaunlich ist in diesem Zusammenhang allerdings die spätere Personenstandsangabe auf Annas Sterbeurkunde aus dem Jahr 1945:61
Nur viereinhalb Jahre nach Hermann stirbt Anna als seine Witwe und nicht seine geschiedene Ehefrau – Ob dies als Hinweis darauf gelesen werden kann, dass ihre Scheidung 1939 nicht aus freiem Willen geschah?
„Man hat die aufgesammelt, welche seit Jahren durch die Korridore der Häuser gehen oder auf dem Boden sitzen und da vor sich stieren und die manchmal singen, manchmal grell schreien, weinen, greinen – und manchmal im Zorn die Scheiben zerschlagen. So ist das Menschengesicht entstellt – und noch immer ein Menschengesicht.“6263
Dass Überlegungen zur möglichen Tötung von „unbrauchbar“ eingestuften Menschen bereits seit Anfang des Jahrhunderts vorlagen und publiziert wurden, ist bekannt. Planvoll umgesetzt wurden diese nun unter der Herrschaft der Nationalsozialisten und besonders nach Kriegsbeginn. Der Boden für Akzeptanz der „Euthanasie“ in der Bevölkerung wurde von langer Hand vorbereitet:
„In Propagandafilmen und auf Plakaten wird unverhohlen Stimmung […] gemacht. Während die Kranken angeblich in Palästen wohnen, müssten gesunde Arbeiterfamilien mit dreckigen Hinterhöfen Vorlieb nehmen, lautet die Botschaft. Im Mathematik-Unterricht müssen Schüler ausrechnen, wie viel Geld ihr Unterhalt kostet und was sich "gesunde" Familien mit diesen Summen alles leisten könnten. So wird der Boden für die Ermordung von insgesamt mehr als 70.000 Menschen bereitet […].“64
Allein die Frage nach dem wirtschaftlichen Nutzen der PatientInnen leitete die „Aktion T4“. Erbhygienische Motive wurden allenfalls vorgeschützt: „Sie halfen denjenigen über die Gewissensbrücken, die nicht aus blankem Materialismus morden wollten, sondern den hohen Zweck dauerhaft gesunder Volksgesundheit als Rechtfertigung bevorzugten.“65
„Wieviel Butter kostet ein Menschenleben?“ – Auch unser Vater, Hermanns Neffe, wird als damals neunjähriger Schüler Rechenaufgaben dieser Art im Mathematikunterricht bearbeitet haben.
Im Oktober 1939 beauftragt Adolf Hitler im „Euthanasie-Ermächtigungsschreiben“ die entsprechenden Stellen, die Befugnisse von Ärzten dergestalt zu erweitern, dass „nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“66
Zu diesem Zweck und um Platz für Lazarette zu schaffen, kündigt das Reichsinnenministerium im Januar 1940 den Heil- und Pflegeanstalten die geplante „Verlegung“ Kranker an und verschickt Meldebögen, mithilfe derer die in Frage kommenden Patienten erfasst werden sollen. Anzugeben waren Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungen und Einschränkungen, welche sich seit mindestens fünf Jahren in einer Anstalt befinden, zwangseingewiesen, kriminell, nichtdeutscher Staatsangehörigkeit oder Rasse sind oder „in den Anstaltsbetrieben nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten (Zupfen o.ä.) zu beschäftigen sind“.67
Hermann erfüllt aufgrund seiner unheilbaren Erkrankung und seiner langen Verweildauer in der Klinik mindestens zwei der genannten Bedingungen zur Meldung. Da sein Meldebogen nicht erhalten ist, können wir über die möglichen Eintragungen nur Vermutungen anstellen:
Ein „Dauererfolg“ einer wie auch immer gearteten Therapie ist nach über zehn Jahren Aufenthalt in der Anstalt sicherlich nicht in Aussicht zu stellen, „mit Entlassung demnächst“ ist vermutlich nicht zu rechnen. Dass er „Regelmäßig Besuch“ erhalten hat, ist angesichts der Entfernung zur Hauptstadt Berlin, der Kriegsumstände und auch aufgrund der anzunehmenden Schwere seiner Erkrankung eher unwahrscheinlich.68
War er „bettlägerig“, „sehr unruhig“, in „festem Haus“?
Im wichtigsten Feld des Meldebogens, der Erfassung der Arbeitsleistung, werden die Angaben sicherlich nicht ausreichend gewesen sein, um ihn vor der Ermordung zu bewahren.
Über sein weiteres Schicksal entscheiden nach Erhalt des ausgefüllten Meldebogens unabhängig voneinander drei ärztliche Gutachter im „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ (RAG): ein blaues Minus in dem vorgesehenen Kasten auf dem Bogen kennzeichnet Patienten, die weiterleben dürfen. Hermann erhält ein rotes Pluszeichen und damit wie 70000 weitere Patienten aus deutschen Heilanstalten zwischen Herbst 1939 und Sommer 1941 sein Todesurteil.
Alle dergestalt markierten Meldebögen werden nun an die „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ (Gekrat) weitergeleitet, welche für die Abwicklung der Patiententransporte zuständig ist und die entsprechenden Namenslisten erstellt.
Im brandenburgischen Neuruppin ist für die konkrete Vorbereitung der „Verlegung“ und den Kontakt zu den Anstalten der Landesmann Dietloff von Arnim zuständig, er leitet die Namenslisten mit detaillierten Hinweisen zum Ablauf des Transports an die entsprechenden Anstalten weiter: So ist laut seinem Schreiben an die Neuruppiner Anstalt vom 20.4.1940 (!) den Kranken neben all ihren Habseligkeiten auch ihre Patientenakte mitzugeben.
Ferner sind unruhige Kranke bei Bedarf „mit entsprechenden Mitteln für einen mehrstündigen Transport vorzubehandeln“ und ihre Kleidung ist so zu kennzeichnen, „dass ihre Identifizierung gewährleistet ist“69 - Sollte man sich zunächst in der Anstalt zu Beginn noch über den Zweck der Meldebögen im Unklaren gewesen sein, so war die Klinikleitung spätestens ab diesem Zeitpunkt über den Verbleib der gemeldeten PatientInnen im Bilde. „Der erste nachweisbare Tötungstransport aus einer brandenburgischen Heil- und Pflegeanstalt ging am 25.4.1940 aus Neuruppin ab.“70 Mindestens sechs weitere Transporte mit vermutlich 400 vor allem langjährigen PatientInnen verlassen die Anstalt in den nächsten drei Monaten. Zwei für den Transport der Menschen genutzte ehemalige Busse der Reichspost mit blickdichten Fenstern und außen grau lackiert treffen meist schon am Vorabend eines Abtransports auf dem Gelände der Neuruppiner Anstalt ein.71
Die Anstaltsleitung in Neuruppin, Direktor Bruno Petzsch und sein Vertreter, Oberarzt Hans Berendes, setzen die vorgegebenen Maßnahmen nicht nur dienstbeflissen um, sondern bemühen sich ihrerseits noch um perfide Verbesserungsvorschläge. So regt man an, die in Neuruppin bewährte Kennzeichnung der PatientInnen in anderen Anstalten zu übernehmen: statt die Namen der PatientInnen auf schlecht haftende Leukoplaststreifen zu schreiben, werden diese
nun auf deren Hemdrücken eingenäht und zusätzlich eine Kennmarke aus Blech mit eingestanzter fortlaufender Nummer mit Bindfaden am Knopfloch befestigt.
Doch damit nicht genug: man schreibt den Männern, Frauen und Kindern ihren Namen mit rotem Kopierstift auf die bloße Haut zwischen die Schulterblätter: „Die Kranken waren zu zeichnen – die Pfleger und Pflegerinnen sagten: wie Schweine.“, so Alfred Döblin 1946 in seinem Zeitungsartikel „Die Fahrt ins Blaue“.
Um die Abtransporte noch effektiver zu gestalten, wird Neuruppin am 17. Juli 1940 zur Sammelstelle der zur Tötung bestimmten Menschen aus den umliegenden Heilanstalten bestimmt.
In der sogenannten Zwischenanstalt muss dafür zusätzlich Platz für viele Hunderte Menschen („Listenkranke“) geschaffen werden. Dies geschieht durch Abtransporte in die Tötungsanstalt Brandenburg und einer engeren Belegung in den Häusern der langjährigen „Schiedsspruchkranken“ wie Hermann.
War die Versorgung schon vorher eingeschränkt und die Ernährung unzureichend, so wird sich diese für ihn und seine Mitpatienten durch die zeitweise Überbelegung der Anstalt nach Kriegsbeginn sicherlich noch einmal deutlich verschlechtert haben.
Die Sterblichkeitsrate auch innerhalb der Anstalt steigt in dieser Zeit rasant, vorhandene Aufzeichnungen über die regelmäßigen Gewichtskontrollen der Patienten dokumentieren die verheerenden Folgen der andauernden Mangelernährung.
Für den 19. Transport Neuruppiner Patienten in die Gasmordanstalt Bernburg beginnt die Planung im zweiten Kriegswinter. Mit Schreiben vom 29. November 1940 informiert Dr. Irmfried Eberl, Arzt und Direktor der Bernburger Anstalt, den Ober-Medizinalrat Direktor Dr. Bruno Petzsch aus Neuruppin über die nächste „Verlegung“:72
100 Neuruppiner Patienten umfasst die dem Schreiben beigefügte erste Transportliste. Wie üblich, listet man somit zunächst deutlich mehr Patienten als tatsächlich an einem Tag abtransportiert und vernichtet werden können. Dies erfolgt laut Eberl um „Ersatz für verlegte, schwer erkrankte, zu beurlaubende usw. Patienten“ vorzuhalten – die Wortwahl des Schreibens zeigt einmal mehr die Bemühungen der Nationalsozialisten, Menschen zu Material zu degradieren und zu verdinglichen.
Die Anstaltsleitung in Neuruppin ist nun angehalten, eine Auswahl aus diesen 100 Männern zu treffen und eine bestimmte Anzahl von Patienten zurückzustellen. Die in Eberls Schreiben genannten Gründe für eine Zurückstellung sind allerdings Teil der Täuschungs- und Verschleierungstaktik, denn in der Praxis leiten reine Nutzungserwägungen die Auswahl: Patienten wurden nur verschont, wenn ihre Arbeitsleistung als ausreichend eingeschätzt wurde. Bei Hermann Hippmann war dies nicht der Fall, ihn kennzeichnet auf der Liste der 100 Männer keine Bleistiftnotiz als „Arbeiter“:73
Eine zweite Transportliste mit 75 Namen wird erstellt. Hermann trägt die Nummer 22, sein Wäschesack erhält die oben notierte Nummer 977.
Doch warum wird der ursprünglich von Irmfried Eberl auf den 17. Dezember terminierte Transport erst im neuen Jahr, am 23. Januar 1941 durchgeführt?
Eine erste Planänderung erfolgt am 11. Dezember 1940, denn an diesem Tag informiert Eberl bzw. dessen Stellvertreter Heinrich Bunke telefonisch Petzsch in Neuruppin, dass die „75 geisteskranken Männer lt. Transportliste Nr.19 nicht am 17.12.1940, sondern erst am 9.1.1941 […] abgeholt werden.“74
Verschoben von Mitte Dezember auf Anfang Januar: wie makaber, sich vorzustellen, dass dieser dreiwöchige Aufschub dem Bedürfnis der Belegschaft der Bernburger Tötungsanstalt entsprang, „eine längere Pause wegen der Weihnachtsfeiertage und des Jahreswechsels“ einzulegen.75 Weihnachten 1940 in Bernburg – wie haben die 75 Todeskandidaten in der Landesanstalt Neuruppin wohl die Festtage verbracht?
Anfang Januar dann entfällt der für den 9.1. geplante Transport ebenfalls. Man vereinbart zwei Tage zuvor erneut telefonisch eine 14tägige Terminverschiebung, diesmal auf den 23. Januar:
Was diesmal der Grund für den Ausfall des Transports war und auf wessen Betreiben hin die Terminverschiebung beschlossen wurde, ist unbekannt.76
In der „Berliner Seelenliste“, dem Neuruppiner Aufnahmebuch für Berliner PatientInnen, ist Hermanns Abtransport als Entlassung vermerkt: (Anklicken zum Vergrößern)
Er wird unter dem Aktenzeichen 993 geführt. Als Zielort ist unter Bemerkungen „fr. Anst.“ angegeben, eine Bezeichnung, welche in Neuruppin als Code für die Gasmordanstalt verwendet wurde. Was sich unter der Nummer 9889 verbirgt, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden.77 Zu entdecken, dass im Feld „Tag der Entlassung“ der Datumseintrag durch dreifache Streichung vom 9. auf den 23.1. geändert worden ist, berührt sehr.
Zweimal wird der Transport Nr. 19, für den Hermann Hippmann vorgesehen ist, verschoben. Fünf Wochen liegen zwischen den Terminen. Hatte er noch Kenntnis von diesen Vorgängen?
Vermutlich am frühen Morgen des Donnerstags, den 23. Januar 1941, schreibt man dem 58jährigen Kranken seinen Namen mit rotem Kopierstift auf die Schulterblätter. Was verspürte er dabei? Besaß Hermann nach zehn Jahren Anstaltszeit noch eigene Kleidung, an der man ihm die Blechmarke mit seiner Nummer 22 befestigte?
Welche persönlichen Habseligkeiten schnürte man in sein Bündel mit der Nummer 977?
Gehörte er zu den unruhigen Kranken, die einer „Vorbehandlung“ bedurften, bevor sie in die grauen Busse stiegen?
Hat er sich gewehrt, als man ihm den Rücken beschrieb oder hat er den Buckel widerstandslos krumm gemacht?
Mit Hermann Hippmann stehen 75 Männer auf der Transportliste Nr. 19.
Haben sie ahnen können, was ihnen bevorsteht? Hat man auch Hermann und seinen Weggefährten einen Ausflug, eine „Fahrt ins Blaue“ versprochen? Oder kannten man auch in Neuruppin bereits die „Bernburger Krankheit“?78
An diesem Donnerstag im Januar 1941 treten letztendlich allerdings nur 60 von den 75 gelisteten Männern die Reise nach Bernburg in den Tod an. Wie kommt es dazu? Die gleichermaßen einfache wie furchtbare Erklärung hierfür gibt diese Meldung des Landesinspektors Paul Quoos über den durchgeführten Transport:79
„ein dritter Wagen ist ausgefallen“ – Banal sind die Ereignisse, welche hier über Leben oder Tod entscheiden. Ein defekter Bus führt dazu, dass von der alphabetisch sortierten Transportliste Nr.19 die letzten fünfzehn Namen von „Tietke“ bis „Zühlke“ gestrichen werden. Fünfzehn Männer werden damit am 23.1.1941 ganz unerwartet verschont, stehen aber, so ist es in der Akte vermerkt, „für einen nächsten Transport zur Verfügung“.80
Wann haben diese Patienten davon erfahren, dass sie zunächst nicht „verlegt“ werden?
Die meisten der 60 Männer, welche dann die zwei ehemaligen Reichspostbusse besteigen, sind zwischen 30 bis 45 Jahre alt, nur fünf sind älter als Hermann. Der jüngste ist 20, der älteste 80 Jahre alt. Sie stammen etwa aus Berlin, Neuruppin, Hannover, Remscheid, Leipzig oder Königsberg. In einem früheren Leben waren sie unter anderem Zeichner, Zuschneider, Arbeiter, Fabrikantensöhne, Schiffsführer, Bürogehilfe, Kürschner, Schlosser oder Gastwirt wie Hermann. Einige haben wie er im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft. Viele sind verheiratet, manche geschieden. Sie sind unter anderem aus den Heilanstalten Herzberge, Buch, Wittenau, Potsdam oder Fürstenwalde in die Landesanstalt nach Neuruppin verlegt worden, wenige haben wie Hermann dort mehr als zehn Jahre verbracht. Was all die Männer vereint, ist ihre Einstufung als „Ballastexistenzen“81 und der gemeinsame Weg in den Tod.
Hat Hermann Hippmann gefroren, als er wie Paul Dohrmann, Willi Dokter, Johan Dombek, Konrad Görtz, Theodor Greinacher, Richard Krause, Karl Kühne, Friedrich Karl Losehand, Paul Porombka, Hugo Pötter, Bernhard Richter, Max Rosenthal, Alex Sass, Rudolf Seidel, Anton Staszak und 44 weitere Männer an diesem Wintermorgen den Bus nach Bernburg besteigt?82
Über seine „Verlegung in eine andere Anstalt“, so der offiziell gebrauchte Terminus, wird seine Familie, wenn überhaupt, erst nach erfolgtem Transport informiert, denn laut Reichsinnenministerium fiel diese Aufgabe der „aufnehmenden Anstalt“, d.h. in diesem Fall Bernburg, zu. Ein mögliches Eingreifen seitens der Familie war zwar generell theoretisch möglich, kam durch diese Maßnahme in der Praxis aber sehr selten vor: „Häufig erfuhren Eltern oder Geschwister erst von der „Verlegung“ als keine Möglichkeit zur Intervention mehr bestand.“83
Wann hat man Anna und ihre Söhne in Berlin informiert?
Wie lang mag die Fahrt in das etwa 230 Kilometer entfernte Bernburg an der Saale gedauert haben? Mit welchen Mitteln hat man die Männer während der Fahrt ruhig gehalten? War Hermann überhaupt noch in der Lage, diese Fahrt sitzend zu überstehen? Hermanns Transport in den Tod haben sicherlich wie anderorts auch üblich Pfleger aus der Anstalt begleitet, aus Neuruppin waren sechs von ihnen seit Januar 1940 zur „T4“-Aktion verpflichtet. Für die Tötungsanstalt in Bernburg waren Edith Richter und Erwin Bischkopp zuständig.84
Die staatliche „Landes- Heil- und Pflegeanstalt Bernburg“ war als sechste Tötungsanstalt in Deutschland im Oktober 1940 ausgewählt worden, nachdem die zuvor genutzte Gasmordanstalt inmitten der Stadt Brandenburg unter anderem wegen der aufkommenden Unruhe in der Bevölkerung außer Betrieb genommen wurde.85
In Bernburg mietet man sechs Gebäude auf dem Gelände der psychiatrischen Anstalt an und installiert im Keller des ehemaligen Männerhauses H eine Gaskammer:
„Dazu kachelten sie Wände und Fußböden eines kleinen […] Raumes und versahen ihn mit zwei gasdicht schließenden Türen und einem schmalen ziegelsteingroßen Sichtfenster. An die Decke montierten die Handwerker Rohleitungen mit Brauseköpfen, um den Eindruck eines Duschraumes zu erwecken. Außerdem bauten sie zwei koksbefeuerte Öfen ein und schlossen diese an den Hauptschornstein der Anstalt an. Zusätzlicher Aufwand, wie er in Brandenburg durch zu niedrige Schornsteine, Geruchsbelästigung und dadurch bedingte Trennung von Tötung und Einäscherung entstanden war, wurde damit von Beginn an vermieden.“86
Hieran angrenzend wurde ein Sektionsraum mit zwei Seziertischen, ein Leichenraum, ein Krematorium mit zwei stationären, koksbefeuerten Verbrennungsöfen und ein Sammelraum zum Sortieren der Kleidung und Wertgegenstände der Ermordeten eingerichtet. Um die Kranken unbemerkt zu dem Gebäude zu bringen, trennten Sichtschutzmauern und Bretterzäune diesen Gebäudeteil von der übrigen Anstalt, in der der normale Psychiatriebetrieb weitergeht, ab. Aus der errichteten Holzgarage, in der drei Transportbusse gleichzeitig Platz finden konnten, führt man die Passagiere durch einen Wanddurchbruch mit verschließbarer Tür unbemerkt in den übrigen Gebäudeteil.
Dr. Irmfried Eberl, der bereits die Mordanstalt Brandenburg leitete und ab Sommer 1942 Erster Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka werden wird, steht der Tötungsanstalt und ihren circa 140 Beschäftigten vor. Der Leiter der angrenzenden psychiatrischen Anstalt, Willi Enke, ist über die Aktion T4 „in vollem Umfang unterrichtet.“87
Dank der Publikationen von Ute Hoffmann und Dietmar Schulze sowie der Dauerausstellung in der Bernburger Gedenkstätte können wir uns ein Bild über den Ablauf der dortigen Tötung machen:88
In Bernburg angekommen, wird Hermann zunächst im Erdgeschoss des ehemaligen Männerhauses II einem Arzt vorgeführt, der nach flüchtiger Inanschaunahme anhand vorgegebener Standardformulierungen die fingierte Todesursache für die spätere Sterbeurkunde festlegt. Patienten, deren Gehirne dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch zur Verfügung gestellt werden sollen, malt man ein rotes Kreuz auf den Rücken, um ihre Körper nach der Vergasung von den übrigen Leichen leichter separieren zu können.
Wertsachen, welche wie vorgesehen abgegeben und registriert werden könnten, wird Hermannwohl nicht mehr besitzen. Danach werden drei Fotos von ihm angefertigt: ein Gesamtbild, ein Brustbild und eine Profilaufnahme. Was ist mit diesen Fotos in Bernburg passiert? Wurden sie, wie in anderen Mordanstalten auch, auf Karteikarten mit den wichtigsten Daten aus den mitgegebenen Patientenakten geheftet?89
Pflegepersonal führt die nackten Menschen in den Keller zur Gaskammer, einen 13,78 qm kleinen Raum. Da dieser laut Schulze bis zu 75 Menschen fasste, haben Hermann vermutlich all seine 59 Mitreisenden in den Tod begleitet.
Durch Öffnung des Gashahns leitet ein Arzt für ungefähr 3 bis 5 Minuten Kohlenmonoxid-Gas in den Raum und beobachtet durch das kleine Sichtfenster den bis zu einer Viertelstunde dauernden Todeskampf der Menschen:
„Bei den Eingeschlossenen blockierte das Einatmen von Kohlenmonoxid die Sauerstoffaufnahme des Blutes. Nach dem Einsetzen von Hör- und Sehstörungen,
Herzrasen, Schwindelgefühl und Muskelschwäche trat je nach Konstitution die Bewusstlosigkeit ein. Einige der Kranken waren ruhig, standen zum Teil auch noch unter dem Einfluss von Medikamenten. Andere wehrten sich, schrien und schlugen in Todesangst gegen die Türen.“90
Bevor die Gaskammer nach einer Stunde wieder geöffnet wird, saugen Entlüftungsvorrichtungen das CO-Gas durch das vergitterte Fenster ab. Die in den darüberliegenden Büroräumen beschäftigten MitarbeiterInnen sind angewiesen, während dieser Zeit ihre Fenster geschlossen zu halten.91
Danach werden die ineinander verkrampften Leichen von einem Mitarbeiter, „Leichenbrenner“ oder „Desinfektor“ genannt, im Raum mit Wasserstrahl von ihren Exkrementen gereinigt.
Einigen, vor allem an Epilepsie Erkrankten, entnimmt man im angrenzenden Sezierraum die Gehirne. Danach werden die Leichen zum Totenraum geschleift, dort aufeinandergeschichtet und im angrenzenden Krematorium verbrannt, jeweils mehrere auf einmal, 60 bis 100 pro Tag, nahezu täglich.92
Kutscher der benachbarten Anhaltischen Nervenklinik entsorgen die sterblichen Überreste der Ermordeten daraufhin in einer als Müllgrube genutzten ehemaligen Lehmgruppe an der südwestlichen Stadtgrenze.
Hermann verstarb als Nummer 255/1941.
Ein sogenannter Trostbrief wird der Familie wie üblich zugegangen sein - verfasst mit Standardformulierungen und der gewohnten Information, dass der „Verstorbene“ unverzüglich hätte eingeäschert werden müssen, nebst Angebot der kostenpflichtigen Übersendung der Urne sowie der Sterbeurkunde in zweifacher Ausführung ausgestellt von dem im Obergeschoss der Todesanstalt eingerichteten Sonderstandesamt „Bernburg II. Die Angaben auf den Unterlagen waren in vielen Punkte falsch beurkundet: So ist Hermann nicht, wie auch auf seiner Geburtsurkunde vermerkt, am 5. Februar in der Gaskammer gestorben, sondern am Tag seiner Ankunft in der Tötungsanstalt Bernburg, am Donnerstag, den 23. Januar 1941.93
Zwölf Tage liegen in Hermanns Fall zwischen dem auf der Sterbeurkunde ausgestellten und seinem realen Sterbedatum – dank dieser falschen Angabe konnte man sich bei den zuständigen Kostenträgern zwölf Tagsätze erschleichen – eine übliche Praxis, die „Aktion T4“ mitzufinanzieren.
Neben der falschen Datumsangabe waren in der Regel auch die Angabe zu Familienstand, letztem Wohnsitz, Sterbeort und selbstredend die Todesursache falsch. Auch die Nummer 255/1941 ist zufällig gewählt und lässt keinerlei Rückschlüsse auf die reale Anzahl der Tötungen zu.94 Unterzeichnet waren die Briefe und Urkunden mit fiktiven Decknamen.
Eine Urne, um die sich Anna und ihre Söhne in Berlin hätten versammeln können, um Abschied vom Ehemann und Vater Hermann zu nehmen, scheint aus Bernburg nicht angefordert worden zu sein. Die Archive der zuständigen Berliner Friedhofsverwaltung geben keinen Hinweis auf eine Bestattung. Auch hätte diese Urne mitnichten Hermanns sterbliche Überreste enthalten, denn da eine Trennung der Asche der einzelnen Leichen nicht möglich war, füllte man die Urnen in der Regel mit einer Aschemischung und zermahlenen Knochenresten.Was ist mit seiner Krankenakte geschehen? Ist sie, wie eigentlich vorgesehen, nach Einsichtnahme durch die „aufnehmende Anstalt“ wieder zurück nach Neuruppin geschickt worden?95
Zum Zeitpunkt von Hermanns Ermordung sind Anna und ihr jüngster Sohn, welcher inzwischen eine Familie gegründet hatte, noch in Berlin gemeldet.1944 fällt der älteste Sohn an der Westfront, die Familie des jüngsten Sohnes erlebt in den letzten Kriegsmonaten die Bombardierung Berlins durch die Alliierten, wird nach Niederschlesien evakuiert und findet nach Ende des Krieges in Nordrhein-Westfalen eine neue Heimat.
Hermanns Ehefrau Anna verstirbt ein halbes Jahr nach Kriegsende im Oktober 1945 in Berlin-Wittenau an „Herzleiden, Gicht, Herzschlag“.96 Ihr Tod wird angezeigt von ihrer Schwester Gertrud. Auch auf ihre Beisetzung ist kein Hinweis in den entsprechenden Registern zu finden.
Wittenau
97Nachdem man zunächst viele Jahre davon ausgegangen war, dass in der Karl-Bonhoeffer-Klinik keine Dokumente aus der NS-Zeit mehr existieren und 1980 in der Festschrift zum 100. Jubiläum der Anstalt diese Zeit nur mit einem Satz Erwähnung fand, bildete sich, initiiert vom damaligen ärztlichen Leiter der Klinik, eine Arbeitsgruppe aus engagierten ÄrztInnen und MitarbeiterInnen der Klinik. Diese stieß bei ihren Recherchen auf 90.000 bislang verloren geglaubte Unterlagen in den Archiven der Klinik, darunter Aufnahmebücher und 50.000 Patientenakten. Verschwunden waren allerdings sämtliche Personalakten der Ärzte und Verwaltungsakten aus der Zeit. Unter Betreuung des Historikers Götz Aly entstand nach Auswertung dieses Materials 1988 die Ausstellung "totgeschwiegen, 1933 – 1945. Zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten“. Sie wurde 2008 komplett überarbeitet und ist in Haus 10 des zum Teil denkmalgeschützten Gebäudekomplexes der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Klinik in der Oranienburger Str. 285 in Berlin-Wittenau zu sehen und auch in Buchform erhältlich.98 Eine Gedenktafel am Haupteingang erinnert an die Opfer der NS-Psychiatrie-Verbrechen.
In einigen Gebäuden der ehemaligen Klinik befindet sich heute das Krankenhaus des Maßregelvollzugs (KMV) der Stadt Berlin. „Haus 5“, in dem Hermann untergebracht war, gehört dazu.99
Neuruppin
Auf seiner Homepage informiert das Universitätsklinikum Ruppin-Brandenburg (ukrb) ausführlich über seine Geschichte.100Zwischen 2002 und 2013 war es mit anderen Kliniken Träger eines Projekts am Historischen Instituts der Universität Potsdam, welches die umfängliche Aufarbeitung und Dokumentation der brandenburgischen Psychiatriegeschichte zum Ziel hatte. Die Forschungsergebnisse werden unter anderem in dem Buch „Die Landesanstalt Neuruppin in der NS-Zeit“ von Dietmar Schulze präsentiert. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Schulen unterstützte die Klinik das Projekt „Stolpersteine“ zum Gedenken an die Opfer der NS-Medizin. Sechs dieser „Stolpersteine“ erinnern vor dem Hauptgebäude der Klinik an ehemalige PatientInnen der Landesanstalt.
Aufnahmebücher und zahlreiche weitere Dokumente nicht nur aus der NS-Zeit der Klinik sind im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam einsehbar.101
Bernburg
„Das Schweigen ist gebrochen. Wir gedenken der mehr als 14.000 Männer, Frauen und Kinder, die zwischen 1940 und 1943 in der Euthanasie-Anstalt ermordet wurden.“102
Ein grau-rosafarbener Grabstein mit dieser Inschrift kennzeichnet vor dem Eingang zur heutigen Gedenkstätte auf dem Gelände des Salus-Fachklinikums-Bernburg die Stelle, an der durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge 1993 die sterblichen Überreste einer unbekannten Anzahl von Ermordeten beigesetzt wurden. Die vergrabenen Aschereste hatte man zuvor auf dem Gelände der ehemaligen Tötungsanstalt gefunden.
Bereits zu Zeiten der DDR gab es unter dem damaligen Leiter der psychiatrischen Anstalt einen kleinen Gedenkort für die Opfer in den Räumen der ehemaligen Tötungsanstalt. Seit 1989 besteht an dieser Stelle die heutige Gedenkstätte, seit 1995 in der Trägerschaft des Landes Sachsen-Anhalt. Ein weiterer Erinnerungsort mit Gedenktafel befindet sich an der Südmauer des Friedhofs III in der Bernburger Ilberstedter Straße. 80 Urnen unbekannter Opfer der Tötungsanstalt Bernburg fanden hier ihre letzte Ruhestätte.103104 Im Rahmen der aktuellen Ausstellung mit dem Titel „Die Vernichtung der "Unbrauchbaren". NS-Gesundheits- und Rassenpolitik am Beispiel der "Euthanasie"-Anstalt Bernburg" werden einmal im Monat nach einer einstündigen Einführung in das Thema Führungen durch die baulichen Reste der ehemaligen Tötungsanstalt angeboten, eine individuelle Besichtigung ist auch wochentags möglich. Pädagogische Projektarbeit bis hin zu mehrtägigen Seminaren machen die Stätte zu einem wichtigen Lern- und Forschungsort. Ein Katalog zur Ausstellung ist über den Buchhandel beziehbar.105
Das Unvorstellbare aushalten. Der Boden des knapp 14 m2 kleinen Raums mit Fliesen im Schachbrettmuster bedeckt, die Wände mit eierschalfarbenen Kacheln mannshoch gefliest, 2 Türen, ein Sprossenfenster mit Milchglasscheibe, vergittert zwar, aber groß genug, um den Raum in Licht zu tauchen – ohne die drei Duschköpfe hätte man diesen hellen Kellerraum vermutlich nicht als Gaskammer erkannt. Wir werden auf bauliche Besonderheiten hingewiesen: der erhöhte Boden zwecks Minderung des Raumvolumens, die Ablaufschräge zur Tür – der Tod ist ein Meister aus Deutschland, auch in der Bernburger Tötungsanstalt.106
Wie sich die Seele bei Besichtigung der Gaskammer in einen dissoziativen Zustand retten kann, beschreibt die Schriftstellerin Helga Schubert anschaulich, wir erstarren angesichts des so grauenvoll alltäglich aussehenden Raumes.107
Nebenan, im angrenzenden ehemaligen Krematorium finden heute Einzelschicksale der Opfer eine Würdigung: Alle dort ausgestellten Fotos und Kurzbiografien entstammen privaten Quellen, da es keine Dokumente oder Unterlagen aus der NS-Zeit der Anstalt mehr gibt. Angehörige haben sie zur Verfügung gestellt.
Hier befindet sich auch das Totenbuch, in dem die Namen aller bislang bekannten 11.000 in Bernburg ermordeten Menschen in alphabetischer Anordnung notiert sind.108
Ungefähr alle zwei Jahre, wenn das Buch durch die Nutzung der zahlreichen BesucherInnen der Gedenkstätte abgegriffen ist, wird es frisch gebunden – und um neue Eintragungen ergänzt:
Hermann Hippmann 1882-1941
109Geflüsterte Andeutungen meiner Mutter, eine geerbte Kiste mit Schwarz-Weiß-Fotos und eine dicke braune Dokumentenmappe mit zahlreichen Briefen und Karten ließen mich nach dem Verbleib des ältesten Bruders meines Großvaters väterlicherseits forschen. Der handschriftliche Eintrag auf seiner Geburtsurkunde bestätigte schnell den Verdacht, Hermann sei ein Opfer der NS-Patientenmorde geworden.Da sein Name nicht auf der vom Bundesarchiv veröffentlichten Liste der „Euthanasie“-Opfer verzeichnet ist, seine Patientenakte sowie Scheidungs- und Sterbeurkunde verloren, seine Meldekarteidaten unvollständig sind und eine Befragung von Angehörigen nicht mehr möglich ist, habe ich mich bei dem Versuch, seine letzten Lebensstationen in Berlin zu rekonstruieren, neben den privaten Dokumenten vor allem auf die digital verfügbaren Berliner Adressbücher gestützt, bevor ich Patientenaufnahmebücher der „Heilanstalten“, Transportlisten und dazugehörige Schriftstücke in den entsprechenden Archiven eingesehen habe.110
Hermanns Elternhaus mit dem Konsum war noch bis in die 70er Jahre im Familienbesitz. Hermanns jüngster Bruder, unser Großvater Richard, verstarb mit 96 Jahren in seinem Geburtsort Verliehausen.
Man sprach nicht über Hermann.
Mein Bedürfnis, seinen Namen als Opfer der NS-Patientenmorde sichtbar zu machen und seiner in einer würdigen Form zu gedenken, entspringt auch diesem Schweigen.
82 Jahre nach der Ermordung beurkundet das Standesamt Bernburg Hermanns Tod neu.111
Seine Geschichte und sein Foto werden einen Platz in der Bernburger Gedenkstätte erhalten.
Ein Antrag auf Verlegung eines Stolpersteins an Hermanns letzten Wohnort am Mehringdamm 62 in Berlin-Kreuzberg ist gestellt.
Linda Verdier, geb. Hippmann, im Februar 2024
Vielleicht
Erinnern
Das ist
Vielleicht
Die qualvollste Art
Des Vergessens
Und vielleicht
Die freundlichste Art
Der Linderung dieser Qual.
Erich Fried, aus: Es ist was es ist. Liebesgedichte, Angstgedichte, Zorngedichte, Berlin, 1983
Bitte helfen Sie uns bei der Vervollständigung der Biografie von 'Hermann Hippmann'. Wenn Sie mehr wissen, Bild- oder anderes Material haben, würden wir uns sehr freuen, mit Ihnen in Kontakt zu kommen.