Aktuelle Relevanz und theoretische Ansätze
In den USA werden bereits Mitte der 1930er Jahre einige breit publizierte Fälle von Menschen diskutiert, die ihren Zustand als Querschnittsgelähmte oder Krebskranke als so aussichtslos empfinden, dass sie getötet werden wollen. Die Euthanasie-Bewegung in den USA prägt hierfür den Begriff des "mercy killing" (Gnadentötung), später auch der "beneficent euthanasia" (wohltätige Euthanasie). Anlässlich einiger dramatischer Einzelfälle, bei denen vor Gericht das Abschalten lebenserhaltender Geräte erstritten wird, kommt es ab Mitte der 70er Jahre in den meisten Staaten des USA zu living-will-Gesetzen (gesetzliche Regelung der Patientenverfügung). Darin erklärt der Einzelne, in welchen Fällen von als aussichtslos empfundener Erkrankung welche Maßnahmen abgebrochen oder nicht mehr angewandt werden sollen, wenn er sich selbst nicht mehr äußern kann. Strittig ist, ob es sich hierbei lediglich um passive Euthanasie handelt. Die Krankheitszustände, für die die Unterlassung oder der Abbruch gewährt werden soll (z.B. Lähmungen oder Demenz) und die Maßnahmen die "weggewählt" werden können (z.B. antibiotische Behandlung, Nahrungszufuhr, Flüssigkeitszufuhr) sind so ausgeweitet, dass der Unterschied zur aktiven Euthanasie verschwindend gering wird. Strittig ist ebenfalls die Übertragung der jeweiligen Möglichkeiten, die die living-will-Gesetze ermöglichen, auf Neugeborene mit schweren Behinderungen, altersgebrechliche und behinderte Personen. "Niemand soll leiden, nur weil er sich nicht äußern kann", fordert Marvin Kohl, prominenter Bioethiker aus New York. "Wenn fanatisches Beharren auf Einwilligung nur das Leiden verlängert und vergrößert, dann müssen andere im Namen dieser Person eine Entscheidung treffen."Selbstbestimmung und Fremdbestimmung werden wie am Anfang der modernen Euthanasie-Diskussion wieder eng miteinander verknüpft. Oregon hat bislang als einziger Bundesstaat der USA die aktive Euthanasie in Gestalt des ärztlich assistierten Suizids für Patienten, die über 18 Jahre sind, unheilbar krank und eine Lebenserwartung von weniger als 6 Monate haben, legalisiert. Eine ärztliche Zweitmeinung muss eingeholt und eine Widerrufungsmöglichkeit über 15 Tage gewährleistet werden. Das Gesetz, das zunächst als sensationell bezeichnet wurde, wird heute von den Euthanasie-Befürwortern als so kompliziert angesehen, dass es kaum angewandt wird. Im Nord-Territorium von Australien trat im Juli 1996 ein vergleichbares Gesetz in Kraft, wobei die Ausführung der Tötungshandlung über einen Computer erfolgte, der vom Patienten selbst in Gang gesetzt werden musste. Das Gesetz wurde, nachdem es in vier Fällen zur Anwendung gekommen war und heftige öffentliche Kontroversen ausgelöst hatte, im März 1997 vom australischen Oberhaus aufgehoben. In den Niederlanden ist die aktive Euthanasie seit 1994 straffrei und seit 2001 offiziell erlaubt, wenn der Arzt folgende Sorgfaltskriterien einhält:
- der Patient muss seine Bitte freiwillig und nach reiflicher Überlegung äußern
- der Zustand des Patienten muss aussichtslos und sein Leiden unerträglich sein
- der Patienten muss über seine Situation aufgeklärt und gemeinsam mit dem Arzt zu der Überzeugung gelangt sein, dass es keine andere annehmbare Lösung gibt
- ein zweiter Arzt muss zu Rate gezogen werden, den Patienten untersuchen und schriftlich zu den genannten Sorgfaltskriterien Stellung nehmen.
Das heute gültige Gesetz verzichtet im Gegensatz zu dem von 1994 auf die zeitliche Beständigkeit des Tötungswunsches, die Unheilbarkeit der Krankheit als Indikation und verlagert die bisherige Altersgrenze von 18 auf 16 Jahre. Kritiker sehen dies als Beleg für eine „slippery slope“ und verweisen insbesondere auf die über zehn Jahre gleichbleibend hohe Zahl nicht eingewilligter Euthanasiefälle. Euthanasiepraxis in den Niederlanden
Euthanasie mit Einwilligung
1990 › 2.300 Fälle (1,8% aller Todesfälle)
1995 › 3.600 Fälle (2,4% aller Todesfälle)
2001 › 3.652 Fälle (2,6% aller Todesfälle)
Ärztlich assistierte Selbsttötung
1990 › 242 Fälle (0,3% aller Todesfälle)
1995 › 238 Fälle (0,3% aller Todesfälle)
2001 › 180 Fälle (0,2% aller Todesfälle)
Euthanasie ohne Einwilligung
1990 › 976 Fälle (0,8% aller Todesfälle)*
1995 › 913 Fälle (0,7% aller Todesfälle)
2001 › 941 Fälle (0,7% aller Todesfälle)
*hierzu gehören auch 375 Fällen von Entscheidungsfähigen, die man gar nicht erst fragte
Als Motive für die uneingewilligte Euthanasie geben die tötenden Ärzte in einer Befragung 1990 an, dass eine weitere medizinische Behandlung sinnlos gewesen wäre, keine Aussicht auf Besserung bestanden habe, die Angehörigen nicht mehr damit fertig geworden wären und die Lebensqualität zu niedrig gewesen sei. Die hohe Zahl der Euthanasiefälle ohne Einwilligung wird von Kritikern als Beleg bewertet, dass die Tötung ohne Verlangen die unvermeidbare Begleitpraxis einer Erlaubnis der Tötung auf Verlangen ist. Wenn die Tötung auf Verlangen einmal zur legalen medizinischen Behandlung erklärt worden sei, ändere sich ganz offensichtlich auch die Mentalität der Medizin und der Mediziner, die dann auch ohne Verlangen töten, wenn die weitere Behandlung als sinnlos erachtet wird, die Angehörigen als zu belastet gelten oder die Lebensqualität als zu niedrig eingeschätzt wird. In Belgien ist 2002 ein Euthanasiegesetz erlassen worden. Es lehnt sich eng an das Niederländische an, wenn gleich einige Bestimmungen, wie die Altersgrenze von 18 Jahren und die nachzuweisende zeitliche Beständigkeit des Todeswunsches von mindestens einem Monat, strenger sind. Der Anteil der uneingewilligten Euthanasie ist aber noch größer als in den Niederlanden. Nach einer Untersuchung von 2001 waren 1,1% aller Sterbefälle in Belgien auf eingewilligte Euthanasie zurückzuführen und 3,2% auf uneingewilligte Euthanasie. In der Schweiz besteht die besondere rechtliche Situation darin, dass die uneigennützige Hilfe zur Selbsttötung explizit von der Strafbarkeit ausgenommen ist. Die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften, SAMW, respektiert seit 2003 in ihrer Richtlinie „Betreuung von Patienten am Lebensende“ im Gegensatz zu ihrer Haltung früher die Beihilfe zum Suizid durch einen Arzt oder eine andere Person, wenn das Lebensende nahe ist und der urteilsfähige Patient dies wünscht. Die Tötung auf Verlangen wird weiterhin abgelehnt. Schweizer Ärzte halten diese Regelung für die weltweit offenste, da die Methode der Selbstverabreichung offen sei (oral, Infusion oder Magensonde), keine medizinische Zweitmeinung eingeholt werden müsse, die Beihilfe nicht notwendiger Weise von einem Arzt vollzogen werden müsse und keine terminale Erkrankung als Voraussetzung vorliegen müsse.