Charlotte Liepke

aus Berlin

geb. in Berlin
gest. in Brandenburg/Havel

Historischer Ort: Denkmal der Grauen Busse, Porträt 2

Biografie

Autorin: Constanze Lindemann

Charlotte Liepke kommt als Siebenmonatskind auf die Welt. Ihre Mutter berichtet 1913 in der Anstalt in Buch, dass sie mit zwei Jahren noch nicht sitzen konnte und erst im Alter von fünf das Laufen lernte. In ihrem siebten Lebensjahr sprach die Tochter zum ersten Mal verständliche Laute; ab dann lernte sie von Jahr zu Jahr mehr dazu. Nach ihrem achten Geburtstag begann Charlotte Wünsche zu äußern, allerdings meistens durch Zeichen.

Am 22. November 1909 wird das Mädchen auf Veranlassung der Deputation für die Städtische Irrenpflege in die Anstalt Dalldorf (die spätere Anstalt Wittenau) eingewiesen. Die dortige vorläufige Diagnose lautet auf »Aphasie«. 1 In einem Fragebogen wird sie als »lebhaft, erregbar und ängstlich« beschrieben, sie könne »spielen, selbständig und unter Aufsicht körperliche Bedürfnisse befriedigen«. Es heißt, dass sie »gern Vorgänge in ihrer Umgebung beobachtet und sie gut auffasst.« Sprachlich brächte sie aber »nur unverständliche Laute« heraus. Die Ärzte stufen sie als »nicht bildungsfähig« ein.

Die Eltern von Charlotte nehmen ihre Tochter im Januar 1910 »gegen ärztlichen Rat« aus der Anstalt Dalldorf heraus und nach Hause zurück. Als die Mutter im August 1913 in der Anstalt Buch um Aufnahme nachsucht, sagt sie dort, dass Charlotte bereits in Dalldorf war, wo die Ärzte sie als »Idiotin« und als »nicht bildungsfähig« einstuften sowie in die Irrenabteilung einweisen wollten. Eine Schule habe sie nicht besucht. Jetzt seien sie gekommen, weil ihre Tochter »seit Pfingsten viel weint und sowohl tagsüber wie nachts laut schreit«.

Sie schreie ohne Grund und sage dabei immer: ›Mamma haut nicht‹. Ihr Mann sei herzkrank und sie selber inzwischen sehr nervös. Charlotte Liepke wird aufgenommen, aber bereits im November 1913 nach Hause entlassen. Im Juni 1914 wird Charlotte erneut in Dalldorf eingewiesen. Die Diagnose des Aufnahmearztes lautet: »Totale Idiotie mit Erregungszuständen«. Bis zum August 1917, als sie wiederum in die Anstalt Buch kommt, ist in der Krankenakte stereotyp zu lesen: Spricht undeutlich, befolgt keine Aufforderung, weint viel, beschäftigt sich nicht sehr. In Buch lautet die endgültige Diagnose: »Idiotie, schwachsinniges Wesen«. Bis 1929 bleibt Charlotte dort. In diesem Jahr beginnt sie regelmäßig in der Gartenkolonne mit zu arbeiten. Ihre Mutter kümmert sich weiterhin um sie und bekommt sie im Juli 1929 zur Pflege mit nach Hause. Allerdings wird es zu Hause erneut schwierig, so dass sie an Silvester ihre Tochter nach Wittenau bringt. Sie berichtet, dass die junge Frau unaufhörlich jammert oder schreit und über Schmerzen klagt.

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Opferbiographie: Charlotte Liepke, Brief der Eltern
Brief der Eltern an Charlotte Liepke, ohne Datum.

Wittenau nimmt Charlotte Liepke auf, aber überweist sie Anfang Januar 1930 gleich nach Buch. Noch zweimal wechselt die Tochter für jeweils kurze Zeit in die Pflege nach Hause zu ihrer Mutter. Aber ab Ende 1931 bleibt sie in der Anstalt Buch. Zwar hieß es bei der Aufnahme jeweils zur Diagnose nur noch: »Einfache Geistesstörung«; die Tochter möchte jedoch gerne wieder nach Hause und die Eltern bemühen sich ebenfalls mehrmals schriftlich darum. Aber 1934 wird sie im Zusammenhang mit dem »Erbgesundheitsgesetz« beim Amtsarzt gemeldet und 1937 stellt die Fürsorgestelle in der Anstalt Buch fest: »Nach ärztlicher Äußerung sollte ein erneuter Versuch gemacht werden, die Patientin bei der Mutter in Pflege zu geben. M. E. (meines Erachtens) ist die Mutter, die einen erheblich schwachsinnigen Eindruck macht, zur genügenden Beaufsichtigung nicht in der Lage.« Die Eltern bekommen von der Direktion eine Absage »aus verwaltungstechnischen Gründen«.

Charlotte Liepke arbeitet noch in der Gartenkolonne und wird dann mit Stopfarbeiten beschäftigt; ihr Verhalten wird als »unauffällig« und »harmlos« beschrieben, aber ihre Sprache als »unentwickelt« und sie selbst als »hochgradig schwachsinnig« eingestuft. 1938 bemüht sich Buch darum, Charlotte in die Anstalt Wuhlgarten zu verlegen, wo sie am 22. Juni aufgenommen wird. Auch hier lautet die Diagnose wieder »Idiotie«.

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Opferbiographie: Charlotte Liepke, Scan ärztliche Äußerung
Äußerung der Ärzte über Charlotte Lipke, 1938.

Ihre Arbeit wird als »nicht brauchbar « eingestuft. 1939 ist in der Krankenakte nur zu lesen: »Gestern unruhig und geschrien. Abgesondert«. Im April 1940: »Fing morgens laut an zu schreien. Wurde isoliert.«

Am 18. Juni 1940 schreibt der Hilfsarzt Dr. Lehmann in die Krankenakte: »Zur Verlegung in eine andere Anstalt vorgesehen.«

Charlotte Liepke wurde am 22.6.1940 in der T4-Tötungsanstalt Brandenburg/Havel ermordet.


Fußnoten

  1. Aphasiker sind in ihrer Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt, so dass sie je nach Ausprägung ihrer Sprachstörung psychisch oder geistig behindert wirken können. Eine Aphasie ist aber kein Anzeichen für eine psychische oder geistige Behinderung, sondern eine reine Sprachstörung. D.Verf.[back...]

Orte der Biografie

Geburtsort: Berlin

Berlin
Deutschland

Oranienburger Straße 285
13437 Berlin
Deutschland

Hauptaufenthaltsort: Berlin

Berlin
Deutschland

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