Marie Marmuth (geb. Wunderlich)

Arbeiterin aus Berlin

geb. in Berlin-Niederschönhausen (Brandenburg)
gest. in Berlin

Historischer Ort: Denkmal der Grauen Busse, Porträt 4

Biografie

Marie Marmuth war Arbeiterin und erlitt 1922 einen schweren Betriebsunfall. Sie war mit ihrer Schürze an einem Treibriemen hängengeblieben, zu Boden geschleudert worden und mit dem Kopf auf die Steinfliesen geschlagen. Nach einigen Stunden der Bewusstlosigkeit wollte sie weiterarbeiten, fiel aber um und wurde nach Hause gebracht.

Autorin: Constanze Lindemann

Nach vierwöchiger Krankschreibung begann sie wieder zu arbeiten, aber litt täglich teilweise mehrmals unter Krampfanfällen. Daraufhin gab sie die Arbeit in der Fabrik auf und ging als Hausmädchen in Stellung. In dieser Arbeit blieb sie ein Jahr anfallsfrei und versuchte es deswegen wieder mit der Fabrikarbeit. Die Anfälle begannen aufs neue, sie wurde ins Rudolf-Virchow-Krankenhaus (RVK) eingeliefert und von dort aus kam sie 1925 in ein Sanatorium in Zepernick bei Berlin, wo sie bis Ende Februar 1926 blieb. Die dortige Diagnose lautete auf Katatonie, eine Art ›Spannungsirresein‹ mit starken Bewegungsstörungen, von höchstem Erregtsein bis hin zur völligen Starre, eine Untergruppe von Schizophrenie. Auch im Sanatorium litt sie unter starken Anfällen.

Im März 1926 wurde Marie Marmuth auf Veranlassung des Rudolf-Virchow-Krankenhauses in die Nervenheilanstalt Dalldorf eingeliefert. Die Ärzte schildern sie außerhalb der Anfälle als völlig zugänglich, gut ansprechbar, ihrer Krankheit durchaus bewusst. Im Mai verlegt man sie aufgrund von Platzmangel nach Wuhlgarten. Die Diagnose bei der Aufnahme lautet: Schizophrenie. Frau Marmuth entwickelt Wahnideen und hat nach ihren eigenen Angaben auch Selbstmordneigungen. Allmählich tritt aber eine Beruhigung ein, so dass sie im August 1926 die Anstalt Wuhlgarten verlassen kann. Aufgrund eines Anfalls im Juni 1927 wird sie wieder in Wuhlgarten eingeliefert, aber bereits drei Tage später entlassen.

Es folgt eine längere Zeit, in der Marie Marmuth unbehelligt von Krankheit leben kann. 1928 heiratet sie und bringt im Mai 1929 ein gesundes Mädchen zur Welt. Eine Leistenbruchoperation im August 1931 ist für sie aber mit vielen Aufregungen verbunden, die in der Folge wieder Anfälle auslösen. Sie muss im Oktober 1931 erneut in eine Nervenheilanstalt eingewiesen werden. Diesmal ist es Buch. Ihr Mann holt sie gegen den ärztlichen Rat im Dezember nach Hause, bringt sie aber nur fünf Tage später zurück. Seine Frau hatte versucht, im Kaufhaus Karstadt im fünften Stock aus dem Fenster zu springen. In der Heilanstalt setzten sich die Anfälle fort; Marie Marmuth geriet immer wieder in starke Erregungszustände und zeigte die Tendenz, sich selber zu verletzen. Daraufhin wurde sie im März 1932 nach Wuhlgarten verlegt.

Sie selber kann in den Phasen, in denen sie bei klarem Bewusstsein ist, nicht angeben, was die Ursachen für ihre Anfälle sind. Im Mai 1932 beschreibt sie ihren Zustand folgendermaßen:

»Leider bin ich jetzt mit meinen Nerven wieder so runter, daß ich im Geiste wieder Gestalten sehe und mich auch mit ihnen verständigen kann; doch niemals kann ich sie fassen … Wenn ich mitunter so still dasitze oder auch schon im Bett liege, höre ich ganz deutlich, wie mein Kind nach mir verlangt… Da habe ich so eine Unruhe, und dann vergreife ich mich an toten Gegenständen. Was ich in meine Hände bekomme, mach ich, trotzdem ich es weiss, kurz und klein; danach ist mir wieder wohler. Oft ist es schon dagewesen, daß ich in ganz gemeiner Weise beschimpft werde und da es mir nicht gegeben ist, mit zu pöbeln, zumal ich keinen sehe, der es zu mir sagt … bin ich schon manchmal so in Aufregung geraten, daß ich, wenn ich nichts anderes hatte, sogar schon in meine Haare gegangen bin.«

Bild
Opferbiographie: Marie Marmuth, Brief der Schwägerin
Brief der Schwägerin Emmi an Marie Marmuth, 1944.

In einem Gutachten der Anstalt Wuhlgarten aus dem Juli 1933, offensichtlich im Zusammenhang mit den Bemühungen des Mannes von Frau M., sich von ihr scheiden zu lassen, vom Landgericht angefordert, schreibt der Arzt Dr. Margulies, sie sei »die schwierigste Patientin von allen, welche hier seit langem in Behandlung sind«. Wenn sie sich erregt, und das kann ohne jeden Anlass geschehen, zerreisst sie selbst Decken und Matratzen, bringt sich selber schwere Wunden bei, verschluckt Gegenstände. Ihre Anfälle können zwar zu recht als epileptische Anfälle bezeichnet werden, aber sie sind – so das Gutachten – nicht Ausdruck einer epileptischen Geistesstörung, sondern Anfälle im Verlauf einer Schizophrenie. Insofern »besteht die Diagnose Schizophrenie nach allen seitherigen Beobachtungen bei unserer Patientin zu Recht.«

Zu Beginn des Jahres 1934 wird Marie Marmuth wegen des »Erbgesundheitsgesetzes « dem Amtsarzt gemeldet, am 30. Mai wird der Antrag zur Sterilisierung gestellt, am 4. September 1934 fällt das »Erbgesundheitsgericht« den Beschluss, dass Frau Marmuth sterilisiert werden muss. Und am 17. November desselben Jahres wird die Sterilisierung im Krankenhaus Neukölln vollzogen.

In einem Brief an ihre Schwester Else, die ihr mitgeteilt hatte, dass sie ein Kind erwartet, schreibt sie:

»Ich bekomme jetzt keine Kinder mehr und wenn ich auch dreist mich wieder verheiraten würde, denn ich bin sterilisiert worden. Aber das schadet nichts. Habe ich nicht genug Bange um Waltraud (ihre Tochter, d. Verf.) haben müssen. Heute bekam ich gerade die Nachricht, dass Waltraud in Spandau im Johannesstift ist. Eine wahre Freude für mich, weiss ich sie doch in guten Händen und bin mir sicher, dass ich sie in den nächsten Wochen zu sehen bekomme. Stelle Dir bloss diese Freude nach über zwei Jahren vor.«

Der geschiedene Ehemann von Frau Marmuth hatte offensichtlich versucht, jeden Kontakt zwischen der Mutter und ihrer Tochter zu verhindern, nachdem sie in der Anstalt in Wuhlgarten war. In dieser Sache hatte Frau M. auch an das Amtsgericht geschrieben und beantragt, ihr Kind wiedersehen zu können. Als Marie M. im August 1935 auf Urlaub bei ihrer Schwester war, versuchten die beiden, die Tochter im Johannesstift zu besuchen, wurden dort aber nicht vorgelassen. Frau Marmuth kam »sehr verstimmt« aus diesem Urlaub zurück. Vielleicht auch als Reaktion darauf, verschluckte sie zwei Löffel und sagte, sie wolle sterben, um ihre Qualen endlich los zu sein. Sie wurde zur Operation ins Krankenhaus eingeliefert. In mehreren Briefen an die Ärzte, versucht sie immer wieder ihr Verhalten zu erläutern. Sie beschwert sich über einzelne Personen vom Pflegepersonal wegen deren Verhalten Patienten gegenüber. Auch dringt sie darauf, ihre Tochter zu sehen. Die Anfälle klingen jeweils nach einigen Tagen ab, danach arbeitet Marie M. weiter und wird von den Pflegern als ausgesprochen gut und produktiv beurteilt. »Sehr fleissige saubere Hausarbeiterin, die die Hospitaliten rührend betreut«, schreibt eine Assistenzärztin über sie. Bis sie, erneut von fremden Stimmen, Erscheinungen und Ängsten überwältigt, gegen sich selber wütet oder andere angreift und daraufhin entweder »im Kastenbett« angebunden oder in einer Zelle isoliert wird.

Zwischendurch wird Marie Marmuth immer wieder zu ihrer Schwester Else beurlaubt. Deren Antrag im Oktober 1939 aber, Marie aus der Anstalt zu ihr zu entlassen, wird abgelehnt. So bleibt diese auch während der Kriegsjahre in Wuhlgarten. Am 24. April 1945 marschiert die Rote Armee ein und besetzt die Anstalt.

Marie hat in dem herrschenden Chaos 80 Tabletten Veronal an sich gebracht und diese eingenommen – so steht es in der Krankenakte. Am Nachmittag des 26. April stirbt sie.

Orte der Biografie

Geburtsort: Berlin-Niederschönhausen (Brandenburg)

13156 Niederschönhausen
Deutschland

16341 Zepernick
Deutschland

Oranienburger Straße 285
13437 Berlin
Deutschland

Hauptaufenthaltsort: Berlin

Berlin
Deutschland

Haben Sie mehr Informationen oder Anmerkungen zu Marie Marmuth?

Bitte helfen Sie uns bei der Vervollständigung der Biografie von 'Marie Marmuth'. Wenn Sie mehr wissen, Bild- oder anderes Material haben, würden wir uns sehr freuen, mit Ihnen in Kontakt zu kommen.