Ernst Weiß
Maler aus Wilhelmsdorf (Zieglersche Anstalten)
geb.
in
Calw (Baden-Württemberg)
gest.
in
Wilhelmsdorf (Zieglersche Anstalten)
Maler aus Wilhelmsdorf (Zieglersche Anstalten)
geb.
in
Calw (Baden-Württemberg)
gest.
in
Wilhelmsdorf (Zieglersche Anstalten)
Ernst Weiß gehört zu den wenigen Menschen, die noch nach ihrer Verlegung in ein Zwischenlager dem Abtransport in eine Vergasungsanstalt entkamen und die T4-Aktion überlebten. Er war Maler und lebte und arbeitete bis zu seinem Tod bei den Zieglerschen Anstalten in Wilhelmsdorf (heute: die Zieglerschen e. V. – Wilhelmsdorfer Werke ev. Diakonie).
Ernst Samuel Weiß wurde am 31. Juli 1920 als unehelicher Sohn von Friederike (Frieda) Weiß in Calw geboren. Frieda Weiß war am 23. Dezember 1898 ebenfalls unehelich im Armenhaus in Neuweiler geboren. Deren Mutter (1872-1938), die ebenfalls Friederike hieß, hatte bereits einen unehelichen Sohn, den 1893 geborenen Samuel Adam. Fünf Jahre nach Tochter Frieda brachte sie im Jahr 1903 noch ein Mädchen zur Welt: Christina Barbara. Am 1. März 1905 heiratete sie den Dienstknecht Martin Hölzle aus Märzbach, mit dem sie fünf weitere Kinder bekam, von denen zwei Mädchen, Magdalena (Lina) und Anna Maria sowie der Sohn Rudolf das Erwachsenenalter erreichten. 1
Ernst Weiß wuchs zunächst in der Familie Weiß-Hölzle in bescheidenen, doch offensichtlich liebevollen Verhältnissen auf. Er lebte im Haushalt der Großmutter Friederike und ihres Mannes Martin, da seine Mutter arbeiten musste. Ernst Weiß war von Beginn an kränklich und entwickelte sich körperlich und geistig nur langsam. Die Sprachentwicklung blieb aus und erst mit drei Jahren lernte er Laufen.2Am 7. Februar 1927 wurde der noch nicht ganz 7jährige in der Nervenklinik Tübingen stationär aufgenommen und verschiedenen Untersuchungen unterzogen. Die abschließende Diagnose auf dem Entlassungsschein vom 26. März lautete: „Imbezillität“.3
Nach dieser Diagnose scheint die Familie zu dem Entschluss gekommen zu sein, Ernst in eine Pflegeeinrichtung zu geben. Am 17. Juni 1927 wurde er in die Zieglerschen Anstalten in Wilhelmsdorf aufgenommen. Doch auch hier erfüllen sich etwaige Hoffnungen auf die Besserung seines Gesamtzustandes nicht. Der Leiter der Zieglerschen Anstalten in Wilhelmsdorf, Hausvater und Inspektor Heinrich Hermann, teilte 1937 dem Jugendamt in Calw mit, dass Ernst nicht für die „Erlernung eines Berufs in Betracht“ komme. Er könne zwar die Schreibschrift lesen, aber nur wenig schreiben und vor allem nur einzelne Wörter „stammeln“. „Er wird hier nur zu leichter Haus- und Hofarbeit verwendet“.4 Ernst Weiß galt fortan als gehörlos, stumm und erblich schwachsinnig.
Diese Beurteilung brandmarkte den jugendlichen Pflegling als ungeeignet für die zeitgenössischen „rehabilitative[n] Strategien auf arbeitstherapeutischer Grundlage.5
Noch vor dem Beginn der eigentlichen „Euthanasie“-Aktionen gehörte Ernst Weiß damit gemäß dem damals vorherrschenden Sozialdarwinistischen Theorem zu denjenigen Menschen, die als „erbbiologisch minderwertig“ galten und in den Fokus von Medizinern, Biologen und Volkswirtschaftlern gerieten. Deren Anliegen war es, im Sinne einer umfassenden „Rassenhygiene“ oder „Eugenik“ diese Menschen zu erfassen und ihre gesellschaftliche Ausgrenzung zu veranlassen. Für die Behinderten bedeutet dies, dass sie fortan unter der Prämisse einer Kosten-Nutzen-Kalkulation beurteilt wurden, wobei die Kosten für Ihre Verpflegung und medizinische Versorgung gegen ihre mangelnde Leistungsfähigkeit und Produktivität aufgerechnet wurde. Das Fazit der Eugeniker lautete stets, dass eine vollwertige Pflege von erbbiologisch Minderwertigen volkswirtschaftlich unsinnig und letztlich nur erbgesunden Kranken zustehe. Vor diesem Hintergrund waren sukzessive Kürzungen der staatlichen Zuwendungen für Anstaltsinsassen die logische Konsequenz und die Verschlechterung der Versorgungssituation in den Heil- und Pflegeanstalten seit den frühen 1930er Jahren die logische Folge.6
Im Rahmen der eugenischen Debatten wurde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch die Sterilisation als zentrale Maßnahme der negativen Eugenik propagiert.7 Der Ausschluss der Minderwertigen von der Fortpflanzung galt ebenfalls schon vor dem Machtantritt durch die Nationalsozialisten als vordringliche Schutzmaßnahme für die sogenannte „erbgesunde“ Bevölkerung und wurde mehrheitlich auch von den Trägern der – staatlichen wie kirchlichen – Fürsorgeeinrichtungen für Geistig-Behinderte und Seelisch Kranke mitgetragen.8
Im Nationalsozialismus radikalisierte sich dieser Ansatz dahingehend, dass individuelle Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit dem „Volkswohl“ und der „Volksgesundheit“ untergeordnet wurden und das am 14. Juli 1933 verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GezVeN) sah dementsprechend automatisch die Zwangssterilisation derjenigen vor, bei denen angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres manisch-depressives Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit und Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildungen sowie schwerer Alkoholismus diagnostiziert worden waren. Unmittelbar nachdem das Gesetzt am 1. Januar 1934 in Kraft trat, begannen die Zwangssterilisationen, die auf Grundlage eines Urteils durch das jeweils zuständige Erbgesundheitsgericht verfügt wurden. Die Anträge auf Sterilisation beruhten mehrheitlich auf den Anzeigen bzw. Denunziationen durch Mediziner, die als Anstaltsleiter, Amtsärzte, in Kliniken oder als niedergelassene Ärzte tätig waren.9
Frieda Weiß und ihre Familie waren sich dieser zunehmend härter und bedrohlicher werdenden Lebensbedingungen für Ernst offensichtlich bewusst. Durch das Schicken von Päckchen, die nicht nur an Geburtstagen, sondern auch zu Feiertagen und anderen Anlässen in Wilhelmsdorf eintrafen, suchte man seine Versorgungslage zu verbessern. Bereits im Februar 1938 thematisierten Frieda Weiß und die Familie Hölzle in ihren Briefen die bevorstehende Sterilisation von Ernst Weiß.
Nach Auskunft von Hausvater Hermann war es der „Jugendarzt“,10 der den Antrag auf Unfruchtbarmachung für Ernst Weiß stellte. Gemeint ist hier vermutlich der Landesjugendarzt Dr. Max Eyrich, der die Anstalten Württembergs als „großen Sammeltopf“ ansah, den es einer umfassenden Selektion zu unterziehen gelte. Die Fürsorge sollte nach seinem Willen vor allem als „erbbiologisches Sieb dieser Jugend“ dienen.11 Anfang Februar 1938 schrieb Hermann an Frieda Weiß, die sich zuvor offensichtlich – der Brief ist leider nicht überliefert – erkundigt hatte, ob ihr Sohn bereits zur Sterilisation ins Krankenhaus gekommen sei. Hermann erklärte, dass lediglich die Nachricht vorläge, dass der Antrag auf Sterilisation gestellt sei und dass man nun den Bescheid des Erbgesundheitsgerichts Ravensburg abwarte. Nach seiner Erfahrung dauere es „noch mehrere Wochen“ bis zur „endgültigen Krankenhausbehandlung“. Tröstend versicherte er: „Unsere Kinder sind meist sehr gerne in Ravensburg, wegen dem guten Essen. Es dauert in der Regel der Aufenthalt im Krankenhaus 8-10 Tage“.12Ende des Monats erhielt Hermann einen weiteren Brief, diesmal von der Familie Hölzle, die ein Päckchen für Ernst ankündigte und ebenfalls nachfragte, ob Ernst bereits im Krankenhaus in Ravensburg gewesen sei.13 Mit Beschluss vom 15. März 1938 verfügte schließlich das Erbgesundheitsgericht Ravensburg die – von seiner Familie erwartete – Zwangssterilisation von Ernst Weiß „wegen angeborenen Schwachsinns“.14 Am 12. April 1938 nahm ihn das städtische Krankenhaus Ravensburg auf und bereits am darauffolgenden Tag wurde der Eingriff von Chirurg Dr. med. Arthur Kutter vorgenommen.15
Ernst Weiß gehörte damit zu den bis Kriegsbeginn rund 300.000 Menschen, die von der Zwangssterilisation betroffen waren. Ab 1939 kamen dann nochmals – als man bereits zur Tötung der sogenannten Minderwertigen übergegangen war – ca. 75.000 Personen dazu, die ebenfalls sterilisiert wurden. Insgesamt geht man heute von ca. 400.000 Sterilisationen zwischen 1933 und 1945 in Deutschland aus.16
Die stärkste Gruppe der Zwangssterilisierten gemäß ihrer Diagnose, der auch Ernst Weiß zugerechnet werden muss, bildeten die „Schwachsinnigen“, die etwa zwei Drittel der Sterilisierten ausmachten.17
Doch die Unterversorgung und Zwangssterilisation sollten nur der Anfang sein. Mit dem Beginn des Krieges 1939 stand die gesamte medizinische Versorgung in Deutschland unter dem „Diktat kriegswirtschaftlicher Nützlichkeitskalküle,“18 was einen regelrechten „Verdrängungswettbewerb“19zu Lasten der psychisch Kranken und geistig Behinderten in Gang setzte. Ihre Ermordung im Rahmen der NS-„Euthanasie“ steht für einen kategorialen Paradigmenwechsel, der für die bisher ausgegrenzte, entrechtete und entwürdigte Bevölkerungsgruppe die vollständige Vernichtung vorsah und diese bewusst und absichtlich umsetzte und planrational durchführte. Diese Kriterien kennzeichnen den Massenmord an Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Krankheiten als Genozid und stellen ihn auf eine kategoriale Stufe mit der Shoah und anderen Genoziden des 20. Jahrhunderts.20
Der berüchtigten „Hartheimer Statistik“ zufolge starben in den Vergasungsanstalten der „Aktion T4“ bis August 1941 70.273 Patienten.21 Nach dem Stand der aktuellen Forschung bewegen sich die tatsächlichen Opferzahlen jedoch im Bereich von fast 300.000 – Tendenz im Zuge gegenwärtiger und zukünftiger Forschungen steigend.22 Während die genauen Planungs- und Entscheidungsprozesse vor Beginn der Aktion T4 nach wie vor noch nicht vollständig erforscht sind, darf die Organisation der Mordaktion als solche „als der am besten erforschte Teilbereich der NS-„Euthanasie“ gelten“.23
Die eigens für die Durchführung gegründete Behörde in der – namengebenden – Tiergartenstraße 4 unterstand dem Reichsleiter Philipp Bouhler, der zusammen mit Hitlers Leibarzt Dr. med. Karl Brandt für die Organisation und Durchführung verantwortlich war. Unter dem Dach von „T4“ wurden nun weitere Organisationen und Verwaltungsstellen gegründet, die den reibungslosen Ablauf der Aktion ermöglichen und ihren mörderischen Charakter verschleiern sollten. Neben dem „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“, der die Kindereuthanasie durchführte und der „Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege“ („Stiftung“), die als Vertretung von T4 gegenüber Regierungs- und Parteibehörden fungierte, waren für die Durchführung der Erwachseneneuthanasie vor allem die folgenden T4-Organisationen von Bedeutung: Die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ (RAG) war für die Erfassung, Verlegung und Selektion der Patienten zuständig, über sie wurde der Schriftwechsel mit den Anstalten abgewickelt. Die „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“ hielt den schriftlichen Kontakt zu Angehörigen und anderen Kostenträgern, die für die Pflegekosten der Patienten aufkamen. Nicht selten trieb sie noch Zahlungen für bereits ermordete Patienten ein. Die „Gemeinnützige Kranken-Transport GmbH“ (Gekrat) schließlich war als Subunternehmen für die Verlegung der Patienten in die Mord-, später auch in die Zwischenanstalten zuständig und unterhielt die schon bald gefürchteten grauen Busse, die zum Symbol für die Mordaktion wurden.24
Grafeneck wurde zur ersten Tötungsanstalt im Deutschen Reich bestimmt. Für die Anstalten in Württemberg zuständig war der Medizinalbeamte Dr. Eugen Stähle in der Gesundheitsabteilung im württembergischen Innenministerium in Stuttgart.25Innerhalb kürzester Zeit wurde unter seiner Leitung Grafeneck geräumt, neues Personal eingestellt sowie Gaskammer und Krematorium eingerichtet.26 Schon am 18. und 20. Januar 1940 brachte die GEKRAT erste Kranke aus bayerischen Heil- und Pflegeanstalten, die direkt ermordet wurden. Mit der staatlichen Heilanstalt Weinsberg wurde am 25. Januar die erste württembergische Anstalt in die Aktion T4 einbezogen. Im Februar erfolgten erste Transporte aus badischen und württembergischen Heil- und Pflegeanstalten in kirchlicher Trägerschaft. Es war also nur eine Frage der Zeit, wann die „Euthanasie“ auch die Zieglerschen Anstalten in Wilhelmsdorf und damit Ernst Weiß und seine Leidensgenossen erreichte.
Als dann zu Beginn des Augusts 1940 das Innenministerium in Berlin an Inspektor Heinrich Hermann, dem Hausvater der Taubstummenanstalt die Aufforderung richtete, „die anliegenden Meldebögen umgehend nach Massgabe des beiliegenden Merkblattes auszufüllen und an mich zurückzusenden“, war für diesen klar, dass er damit aufgefordert wurde, seine Pfleglinge der Ermordung preiszugeben.27 Er antwortetet schnell und unmissverständlich, dass er die hinter dem Schreiben des Innenministeriums stehende Absicht kenne, dass ihm sein Gewissen das Schweigen verbiete und er sich daher unter Berufung auf das göttliche Gebot nicht an der Tötung seiner Schutzbefohlenen beteiligen könne. Hermann musste in den folgenden Wochen und Monaten jedoch erfahren, dass er für seine widerständige Haltung keine nachhaltige Unterstützung erhielt, weder innerhalb der Zieglerschen Anstalten von Vorstand und Mitarbeiterschaft noch von Seiten des Anstaltsträgers, dem Landesverband für Innere Mission. Auf Druck des Innenministeriums in Stuttgart, das den Obermedizinalrat Dr. Otto Mauthe und Landesjugendarzt Dr. Max Eyrich am 23. Oktober 1940 eigens nach Wilhelmsdorf sandte, wurden dann doch 45 Meldebögen ausgefüllt, die Hermann am 25. Oktober „mit schwerem Herzen“ nach Stuttgart zurücksandte.28
Heinrich Hermann wollte sich damit nicht abfinden. Den streng pietistisch geprägten Hausvater peinigte sein Gewissen. Seine auf die konsequente Einhaltung der göttlichen Gebote ausgerichtete Lebensführung hatte ihn zum anfänglichen Widerstand gegen die Meldebögen befähigt, gleichzeitig aber verhindert, dass er wahrheitswidrig die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und -Leistung seiner Patienten schönte, um sie zu retten. Mit der Rücksendung der Meldebögen nach Stuttgart versuchte er gleichzeitig noch einige Patienten zu retten, indem er gegenüber Medizinalrat Dr. Mauthe, „Zweifel“ bezüglich seiner Beurteilungen anmeldete und darum bat, 19 Patienten, sieben Frauen und zwölf Männer, darunter auch Ernst Weiß, von der Liste zu entfernen und ihre Meldebögen zu zerreißen. Doch Hermann erhielt dazu keine Antwort aus Stuttgart, sondern am 8. März 1941 die Ankündigung der ersten 17 „Verlegungen“. Das Schreiben nannte nochmals die Möglichkeit, arbeitsfähige Patienten als „unentbehrlich“ in ihren angestammten Anstalten zu belassen,29 was Hermann zu einem weiteren Versuch veranlasste, zumindest vier Patienten zu retten. Dies waren neben Ernst Weiß, Siegfried Klotz (*1869), Gotthilf Fischer (*1915) und Rosine Schaile (*1886).30
Trotzdem erfolgte am 24. März 1941 die Verlegung von 19 Pfleglingen – unter ihnen auch die genannten – aus den Zieglerschen Anstalten durch die GERKAT. Über Schussenried kamen sie am 25. März gemeinsam mit 15 weiteren Patienten aus Schussenried nach Weinsberg, das als Zwischenanstalt diente. Die Zwischenanstalten sollten zum einen dem geordneten Ablauf der Mordaktion dienen und einer Überfüllung der eigentlichen Tötungsanstalten vorbeugen zum anderen aber zur Vertuschung der Mordaktion beitragen, indem der Weg der Patienten von den Angehörigen nicht nachvollzogen werden konnte. Auch der sogenannte "Sperrerlaß" des württembergischen Innenministeriums vom 9. September 1940 diente der Verschleierung und verfügte, dass Patienten nicht ohne ausdrückliche Genehmigung des Innenministeriums aus den Pflegeeinrichtungen entlassen werden durften. Angehörige sollten nicht durch die Anstalten auf das drohende Schicksal ihrer Angehörigen aufmerksam gemacht werden, um dann ggf. in die Familie entlassen zu werden. Ab November 1940 war es den abgebenden Anstalten zudem ausdrücklich untersagt, die Angehörigen der "verlegten" Patienten zu benachrichtigen.31
All diese Maßnahmen standen in einem grotesken Gegensatz zum mittlerweile allgemein gewordenen Wissen um die Mordaktion. Nicht nur rund um Grafeneck, das im Dezember 1940 geschlossen wurde, auch im Umfeld der anderen Heil- und Pflegeanstalten sowie bei den Angehörigen war das Schicksal, das die Verlegten erwartete, nur zu gut bekannt.32
Das zeigt auch das weitere Schicksal von Ernst Weiß.
Von den 19 in Weinsberg eingetroffenen Wilhelmsdorfer wurden jene Pfleglinge, für die Hausvater Hermann sich noch bei der Rücksendung der Meldebögen am 25. Oktober 1940 verwendet hatte und deren besondere Bedeutung für die anstaltseigene Wirtschaft er betont hatte, am 7. April auf andere Stationen innerhalb der Weinsberger Heilanstalt verlegt und bekamen eine Krankenakte mit dem Vermerk „Nur im Durchgangsverkehr hier“.33 Ernst Weiß, Siegfried Klotz, Gotthilf Fischer und Rosine Schaile sollten noch einmal genauer auf ihre Arbeits- und Leistungsfähigkeit untersucht werden. Während Klotz, Fischer und Schaile am 16. oder 17. Juni 1941 nach Hadamar verlegt und noch am gleichen Tag ermordet wurden, erhielt Ernst Weiß durch den Anstaltsleiter Karl Eugen Jooss ein Gutachten, das ihm bescheinigte, „gewandt und anstellig“ sowie „körperlich frisch, beweglich und kräftig“ zu sein.34 Diese Beurteilung, die als Grundlage für die endgültige Verschonung von Ernst Weiß anzusehen ist, steht im auffälligen Gegensatz zu dem in Ernst Weiß‘ Patientenakte über den Zeitraum seines Aufenthaltes in Weinsberg geführten Beobachtungsbogen, der in unregelmäßigen Zeitabständen die Leistungen und das Verhalten des Patienten stichwortartig festhielt. Hier wird Ernst als „nicht sehr geschickt“ bezeichnet, meistens wird vermerkt, dass er „wenig leistet“ bzw. „wenig arbeitet“.35 Diese Beurteilung deckte sich auch mit den Erfahrungen Hausvater Hermanns, der die Rettung von Ernst Weiß ebenfalls nicht auf dessen besondere Arbeitsleistung zurückführen konnte.36
Aus der historischen Distanz betrachtet, war es zwar Hermann, der mit dem Hinweis auf die Bedeutung von Ernst Weiß‘ Tätigkeiten innerhalb der Taubstummenanstalt für dessen Rückstellung gesorgt hatte. Doch retten konnte ihn das letztlich nicht, wie das Schicksal der ebenfalls in Weinsberg zurückgestellten Wilhelmsdorfer Pfleglinge zeigt. Für Siegfried Klotz, Gotthilf Fischer und Rosine Schaile bedeutete die erneute Begutachtung in Weinsberg lediglich einen kurzen Aufschub, nicht die Rettung.37Das geschönte Gutachten über die gute Arbeitsleistung von Ernst Weiß durch den Anstaltsleiter Dr. Karl Eugen Jooss hatte seine Voraussetzung in dem Umstand, dass dieser zu jenen Medizinern gehörte, die an der NS-„Euthanasie“ nicht aktiv und aus Überzeugung beteiligt waren, sondern vielmehr „per dienstlicher Verpflichtung“ dem System zuarbeiteten. Jooss nutzte immer wieder die Möglichkeit, in Einzelfällen mittels seiner positiven Gutachten zur Arbeitsfähigkeit der Patienten zu ihrer Rettung beizutragen.38Nach dem Ende des Krieges nahm sich Jooss auf dem Anstaltsgelände das Leben. Seine Witwe und seine Mitarbeiter sahen den Grund dafür in einer psychischen Zerrüttung, die als persönliche Reaktion auf die „Aktion gegen die Geisteskranken“ zurückgeführt wurde.39
Heinrich Hermann hatte trotz seiner eigenen Intervention die Überlebenschance seiner Pfleglinge äußerst gering eingeschätzt und konnte das Überleben gerade von Ernst Weiß nur auf den persönlichen Einsatz der Mutter Frieda Weiß zurückführen. Nachdem er nach eigener Angabe am 19. Juni 1941 erfahren hatte, dass Ernst Weiß zurückverlegt werden solle, erläuterte er ihr gegenüber seine pessimistische Einschätzung, da „nur solche, die in der Landwirtschaft etwas Tüchtiges leisten, verschont werden“. Ebenso freimütig ergänzte er die Einschätzung, dass die mütterlichen „Besuche die Ursache“ für das bisherige Überleben von Ernst Weiß sein könnten.40
Und tatsächlich spiegeln die Briefe von Frieda Weiß und die Aussagen von Zeitzeugen den starken Willen einer Mutter wider, ihren Sohn nicht seinem Schicksal überlassen zu wollen und so weit wie möglich, die Kontrolle über seinen Aufenthaltsort und sein Wohlergehen zu behalten. Gemeinsam mit ihrer Familie trat sie mit den Pflegeanstalten in Kontakt, spürte ihrem Sohn nach und war persönlich präsent, so oft es ihr möglich war. Das gemeinsame Vorgehen der Familie scheint dabei von einer regelrechten Strategie nicht weit entfernt, um den Sohn, Enkel und Neffen aus der Ferne nach besten Kräften zu schützen.
Die Geheimhaltungs- und Verschleierungsstrategien stellten die Familien der Euthanasieopfer vor das Problem, überhaupt von der „Verlegung“ ihres Angehörigen zu erfahren. Die Ursprungsanstalten durften die Angehörigen nicht unterrichten und die Zwischenanstalten ihrerseits benachrichtigten die Familien oft erst spät oder gar nicht.41 Die Fälschung von Daten und Todesursachen tat ein Übriges, um den Weg, den die Verlegten nahmen, zu verschleiern. Die Benachrichtigung über die Verlegungen in eine Zwischenanstalt wurde oft erst verschickt, wenn der oder die Betroffene schon in die Tötungsanstalt transportiert worden war. Oftmals trafen die Benachrichtigung über den Transport in eine der Zwischenanstalten und die Todesnachricht kurz hintereinander bei den Familien ein.
Dies alles muss der Familie Weiß/Hölzle nur zu bekannt gewesen sein. Sie verfiel auf eine vergleichsweise einfache Lösung, sich über den Aufenthaltsort von Ernst Weiß Gewissheit zu verschaffen. Zwei Zeitzeuginnen, denen die Mutter von Ernst Weiß persönlich bekannt war, berichteten unabhängig voneinander, dass Ernst Weiß von seiner Mutter eine adressierte und frankierte Postkarte erhalten habe, die er im Falle einer Verlegung aus der neuen Anstalt schicken sollte. Laut den Zeuginnen soll auf der Karte Raum für eine kurze, symbolische Mitteilung gewesen sein, womit Ernst sein Befinden ausdrücken konnte. Bei der Frage, um welche Symbole es sich dabei handelte, widersprachen sich die Zeuginnen allerdings.42 Dessen ungeachtet ist es tatsächlich eine Postkarte, mit der Ernst Weiß seine Familie von Weinsberg aus kontaktiert und so Auskunft über seinen aktuellen Aufenthaltsort gibt. Am 4. Mai schreibt „Familie Hölzle“ an Hausvater Hermann in Wilhelmsdorf und verlangt Aufklärung über die Verlegung von Ernst Weiß. Am Samstag, den 3. Mai habe man „eine Karte aus Weinsberg erhalten“ und das sei „die Karte, wo ich in sein Osterpaket reingelegt habe“.43
Der Hinweis auf das Osterpaket könnte insofern ein Vorwand sein, als Ostern im Jahr 1941 auf die Zeit vom 11. bis 14. April fiel, Ernst weiß aber bereits am 24. März nach Weinsberg verlegt wurde. Es besteht einerseits die Möglichkeit, dass das Paket sehr früh abgeschickt wurde und Ernst Weiß die Karte noch an sich nehmen konnte oder aber andererseits – unter Einbeziehung der Zeugenaussagen – dass Ernst Weiß die Karte bereits seit längerem besaß, um auf die drohende Verlegung vorbereitet zu sein.
Die weitere Korrespondenz zwischen Frieda Weiß und Heinrich Hermann sowie zwischen Frieda Weiß und Karl Eugen Jooss, dem Anstaltsleiter in Weinsberg, belegen nicht nur die regelmäßigen Besuche der Mutter, sondern die Familie scheint den familiären Zusammenhalt geradezu demonstrativ in Weinsberg in Szene gesetzt zu haben.
Insgesamt besuchte Frieda Weiß ihren Sohn sechs Mal in Weinsberg bevor er wieder nach Wilhelmsdorf zurückkehrte: Sonntag, dem 11. Mai, Samstag, dem 31. Mai und jeweils sonntags, dem 22. Juni, dem 13. Juli und dem 3. August sowie dem 31. August. Einmal wurde sie dabei von ihrer Schwester und einmal sogar von Schwester und „Großvater“ Martin Hölzle begleitet. Die offensichtliche Freude, die diese Besuche bei Ernst Weiß auslösten, wurden in seinem Beobachtungsbogen ausdrücklich vermerkt.44Frieda Weiß versuchte offenbar, wann immer möglich, an den Sonntagen in Weinsberg vorstellig zu werden. Und dies, obwohl Anstaltsleiter Jooss anmerkte: „Sonntagsbesuche sind uns ungeschickt“. Da ihr andere Besuchszeiten aber nicht möglich seien, werde man „für Sie eine Ausnahme machen“.45 Frieda Weiß hatte der Anstaltsleitung resolut erläutert, dass sie ihren Sohn ausschließlich sonntags besuchen könne, da sie „in einem Wehrpflichtigen Betrieb arbeite“ und somit „Werktags keine Zeit habe“.46
Frieda Weiß arbeitete 1941 in der Kantine des sogenannten Rotebühlbaus in Stuttgart. Der Rotebühlbau war zwischen 1827 und als 1843 als Infanteriekaserne errichtet worden, die bis zu 1800 Soldaten beherbergte. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges waren in dem riesigen Baukomplex unter der Adresse Rotebühlplatz 30 diverse Verwaltungsstellen des Reichsfiskus mit Finanzamt, Hauptzollamt und Versorgungsamt, der Wehrmacht mit Wehrkreisbücherei, Standortoffiziersheim, Wehrersatz-Inspektion und Wehrbezirkskommando sowie der Polizei (Bekleidungsstelle) untergebracht.47 Frieda Weiß wickelte ihre gesamte Korrespondenz des Jahres 1941 mit den Heil- und Pflegeanstalten in Wilhelmsdorf und Weinsberg über diese Adresse ab. Ihre Korrespondenz mit den Pflegeeinrichtungen zeigt sie als realistische, gut informierte Frau, die wusste, dass ihr Sohn in Lebensgefahr schwebte. Im Frühjahr 1941 war die T4-Aktion bereits ein „offenes Geheimnis“ und ihre Geheimhaltung vor der Öffentlichkeit längst zur Farce verkommen. Organisatorische Fehler, Indiskretionen der Beteiligten und katastrophale Pannen, welche die Tötungsaktionen begleiteten, sprachen sich erst bei Angehörigen von Anstaltsinsassen und schließlich in der Öffentlichkeit herum.48 So dürfte auch Frieda Weiß die am 28. März 1941 vorgenommene Beisetzung von 88 Ascheurnen auf dem Stuttgarter Pragfriedhof nicht entgangen sein. Es handelte sich um die Asche von Opfern der T4-Tötungsaktion aus den Anstalten Grafeneck, Bernburg, Hartheim bei Linz, Sonnenstein und Hadamar.49
Es gelang Frieda Weiß mit familiärer Unterstützung, ein System von Verbindlichkeiten und Kontakten in Weinsberg aufzubauen, um mittels hoher persönlicher und schriftlicher Präsenz ihren Sohn, so gut es ging, zu unterstützen und dabei zu überwachen. Zwischen ihren regelmäßigen Besuchen kontaktierte sie Anstaltsleiter Jooss schriftlich und mündlich, erkundigte sich nach dem gesundheitlichen und allgemeinen Befinden ihres Sohnes, fragte nach gesundheitlichen Prognosen, kündigte ihren nächsten Besuch an und drängte schließlich nachdrücklich auf die Rückverlegung von Ernst Weiß nach Wilhelmsdorf „weil er dort besser hin passt“.50 Die Familie Hölzle sekundierte, indem sie sich ebenfalls brieflich nach Ernst erkundigte und zudem Päckchen für ihn schickte. Durch die Beilage von Rückporto und Antwortkarten erhielten diese Kontakte über den appellativen Charakter hinaus eine verbindliche Wirkung. Unmissverständlich forderte die Familie jedes Mal eine Antwort seitens der Anstalt ein, die in der Regel auch prompt erfolgte51
Nachdem Frieda Weiß in einem Schreiben von Karl Eugen Jooss vom 18. Juni 1941 erfahren hatte, dass Ernst voraussichtlich „in den nächsten Wochen wieder nach Wilhelmsdorf zurückverlegt“ wird, schaltete sie prompt Hausvater Hermann ein und erbat sich schnellstmögliche Antwort, falls er von der geplanten Rückverlegung Nachricht erhalte. Ihre folgenden Schreiben sowohl nach Wilhelmsdorf als auch nach Weinsberg sind geprägt von dem hartnäckigen Bemühen, die in Aussicht gestellt Rückverlegung zu realisieren und den Sohn in Sicherheit zu bringen, denn, so ihre Hermann gegenüber geäußerte Sorge, sie „habe nämlich die Antwort von Herrn Doktor [K. E. Jooss] erhalten, daß mit Ernst seinem Zustand nichts mehr zu ändern ist u. der Wind werde für Ernst eher stark als etwa [?] mild wehen“.52
Frieda Weiß thematisierte zumindest Inspektor Hermann gegenüber ihre Ängste um Ernst und gab auch ihrem Wissen über den mörderischen Charakter der „Euthanasie“-Aktionen – wenn auch verklausuliert – Ausdruck. Das Schreiben zeigt, dass sie im persönlichen Gespräch bereit war, die vermeintliche Geheimhaltung der T4-Aktion auch gegenüber den beteiligten Ärzten zu unterlaufen.53 Sie scheint gezielt das Gespräch mit der Anstaltsleitung, aber auch dem Personal gesucht zu haben, um an für ihren Sohn wichtige Informationen zu kommen.54 Über Netzwerkbildung und persönliche Präsenz gelang es Frieda Weiß mit Unterstützung durch ihre Familie nicht nur den Kontakt zu ihrem Sohn zu halten, sondern auch die besonders enge und intensive Qualität dieser Beziehung gegenüber der Anstalt zu demonstrieren. Für alle Beteiligten in Weinsberg muss ganz offensichtlich gewesen sein, dass Ernst Weiß nicht zu denjenigen Heiminsassen gehörte „die keine Angehörigen mehr haben oder keinen Besuch bekommen“.55
Neuere Forschungen, die auf der Auswertung von Krankenakten basieren, stützen den Befund, dass ein enger Familienzusammenhalt für die Opfer der T4-Aktion von lebenswichtiger Bedeutung sein konnte.56 In Weinsberg waren es neben Ernst Weiß im September 1941 weitere fünf Männer57 und zwei Frauen,58 deren Arbeitsfähigkeit positiv bewertet wurde und die daraufhin in ihre Ursprungsanstalten zurückkehren konnten. Vier von ihnen, drei Männer und eine Frau erhielten wiederholt Besuch von Familienangehörigen. Die beiden Frauen waren zudem untereinander befreundet und arbeiteten in Weinsberg oft zusammen. Sie konnten ins Bruderhaus Bleiche-Urach zurückkehren. Von den Männern kehrte einer ins Bruderhaus Schernbach, ein weiterer in die Pflegeanstalt Liebenau und schließlich drei Männer in die Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg zurück.59 Diese Rückverlegungen erfolgten am 3., 9. und 10. September. Als letzter folgte Ernst Weiß, der am 11. September von Weinsberg nach Wilhelmsdorf zurückkehren konnte.
In den Wochen zuvor hatte seine Mutter mit sich steigernder Dringlichkeit um die längst angekündigte, aber noch immer ausstehende Rückverlegung ihres Sohnes sowohl bei Heinrich Hermann in Wilhelmsdorf als auch bei Karl Eugen Jooss in Weinsberg gebeten.
Die Heilanstalt Weinsberg hatte bereits am 19. Juni 1942 Heinrich Hermann mitgeteilt, dass man in Wilhelmsdorf „mit der Rückverlegung des Ernst Weiß in Ihre Anstalt […] in einigen Wochen“ rechnen könne. Vorangegangen war dieser Nachricht ein Schreiben von Heinrich Hermann, mit dem dieser sich nach seinen „vorläufig zurückgestellten“ Pfleglingen Gotthilf Fischer, Siegfried Klotz, Ernst Weiß und Rosine Schaile erkundigt hatte. Hinsichtlich von Fischer, Klotz und Schaile erhielt Hermann nur die übliche standardisierte und verschleiernde Antwort, dass diese „am 17. Juni 1941 auf Grund eines Erlasses des zuständigen Herrn Reichsverteidigungskommissars aus kriegswichtigen Gründen durch die gemeinnützige Kranken-Transport-GmbH in Berlin, - W 9, Potsdamerplatz I in eine andere Anstalt verlegt“ worden seien, „deren Namen und Anschrift […] noch nicht bekannt sind“.60
Frieda Weiß beunruhigte die Tatsache, dass ihr Sohn als einziger Wilhelmsdorfer in Weinsberg zurückblieb zunehmend: Am 10. August teilte sie Hermann mit, dass sie in Weinsberg von einem „Wärter“ erfahren habe, dass man „jeden Tag auf Antwort“ warte, dass Ernst Weiß wieder nach Wilhelmsdorf zurück könne, „aber ich glaube es nicht, von den andern [Kindern, so nennt Frieda Weiß die Pfleglinge in ihren Briefen, B.C.-W.] ist keins mehr da, nur noch der Ernst“. Dringlich bat sie um Antwort. Am 13. August teilt ihr Hermann mit, dass er sich seinerseits mit einer Nachfrage ans Innenministerium in Stuttgart gewandt habe. Aber erst am 1. September kann sich Hermann unter Berufung auf die Mitteilung des Innenministeriums vom 15. August an Karl Eugen Jooss wenden, um die Rückverlegung von Ernst Weiß endlich in die Wege zu leiten.61Frieda Weiß ihrerseits schrieb am 1. September voller Ungeduld nochmals an Heinrich Hermann: Am Tag zuvor sei sie „wieder bei Ernst“ gewesen „und habe dort den Herrn Direktor gesprochen, wegen Ernst“. Wieder zeigt sich Frieda Weiß gut informiert: Durch das Gespräch mit Jooss weiß sie bereits, dass laut Bescheid des Innenministeriums es nun möglich sei, „sämtliche Kranke wieder in ihre Anstalten zurück zu lassen“. Sie wünscht, dass ihr Sohn von Wilhelmsdorf aus abgeholt werde, denn „für die Weinsberger ist es unmöglich, ihn zurückzubringen, sämtliche andere Anstalten würden ihre Kranken auch holen“. In ihrer Angst fleht sie Hermann geradezu an: „[…] jetzt sind sie doch bitte so gut und geben mir bald Antwort was sie machen ob es Ihnen möglich ist Ernst zu holen“.62
Am Donnerstag, dem 11. September fuhr Ernst Weiß mit dem Zug von Weinsberg aus in Begleitung des Pflegers Lutz nach Heilbronn,63 wo er am Bahnhof von der Wilhelmsdorfer Pflegerin Frieda Zeisset in Empfang genommen wurde64 Am 13. September drückte Hermann Karl Eugen Joss seinen Dank für die erfolgreiche Rückführung von Ernst Weiß aus und fügte hinzu: „Hier ist er unter seinesgleichen und fühlt sich wohl“.65
Doch von einem Happyend kann in diesem Zusammenhang kaum die Rede sein. Ernst Weiß steht beispielhaft für die „Euthanasie“-Opfer, die zwar überlebten, aber zeitlebens traumatisiert blieben. Zudem waren mit dem vermeintlichen Euthanasiestopp im August 1941 die Tötungen von Anstaltspatienten ja auch keineswegs vorbei. Zwar hatte Hitler mit Befehl vom 24. August 1941 die Verlegungen in die Mordanstalten und damit auch die Tötungen in den Gaskammern beendet, nachdem die Predigt des Bischofs von Münster Clemens August von Galen vom 3. August 1941 das Geheimhaltungssystem rund um die „Euthanasie“ endgültig beseitigt hatte und sich der Empörung seitens der Bischöfe weite Kreise der Bevölkerung anzuschließen drohten. Doch diese Maßnahme sollte ausschließlich dazu dienen, den offenen Konflikt zu vermeiden. Die zentralen Vergasungsanstalten mochten geschlossen sein, die Tötungen gingen jedoch weiter, jetzt nur unauffälliger: in zahlreichen Anstalten tötete man Patienten indem man ihnen überdosierte Medikamente verabreichte oder sie planvoll verhungern ließ.66 Und auch die Verlegungen von Patienten gingen weiter. Die anhaltende Dauer des Krieges verschärfte den planwirtschaftlichen Zugriff auf das öffentliche Gesundheitswesen. Die Räumung von Pflegeeinrichtungen und die damit einhergehende Verdrängung der Insassen war wesentlicher Bestandteil dieser Maßnahmen. Die württembergischen Anstalten erhielten ein Rundschreiben des Innenministeriums Stuttgart vom 6. Dezember 1941, um die diesbezügliche Vereinbarung zwischen dem Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten Dr. Linden und dem Leiter der Reichsarbeitsgemeinschaft der Heil- und Pflegeanstalten (Verordnung vom 23. Okt. 1941) durchzusetzen, gemäß der „Anstalten oder Teile von solchen […] einem anderen als dem bisherigen Zweck zugeführt werden dürfen“.67
Heinrich Hermann, wohl wissend, dass er um eine Antwort auf die Fragen nach Bettenanzahl, Personalstärke und Anzahl der Heiminsassen nicht herumkommen konnte, liefert „die gewünschten Angaben“, merkt jedoch an, dass „die Zieglerschen Anstalten nicht ohne weiteres zu den Heil- und Pflegeanstalten gehören, weil sie auch viele Gehörlose beherbergen, die nur schwach begabt sind“.68 Wenn Hermann gehofft hatte, damit den Bestand seiner Einrichtung in der aktuellen Form zu sichern und Verlegungen in Zukunft abwenden zu können, musste er sich getäuscht sehen. Denn die Reichsarbeitsgemeinschaft sah vor, zukünftig die Schwerst- und unheilbar Kranken in ausgesuchten Anstalten zu konzentrieren und in diesem Zuge die Taubstummenanstalt zu einer reinen Fürsorgeanstalt umzufunktionieren. Trotz hartnäckigem Widerstand von Seiten Hermanns kam es im September 1943 somit erneut zu Verlegungen von insgesamt 40 Wilhelmsdorfer Insassen der Taubstummenanstalt. Während die Erwachsenen mehrheitlich nach Zwiefalten gebracht wurden, kamen die übrigen, hauptsächlich Kinder und Jugendliche, in die Heil- und Pflegeanstalt Heggbach. Von den Verlegten erlebten zehn das Ende des Krieges nicht mehr.69
Die allgemeine Angst vor den Verlegungen blieb so auch nach dem August 1941 in Wilhelmsdorf bei den Anstaltsinsassen und ihren Angehörigen präsent, erhielt durch die aktuellen Ereignisse vielleicht sogar weiteren Auftrieb. In einem Brief aus dem März 1942 reagiert Frieda Weiß geradezu panisch auf eine missverständliche Bemerkung von Hausvater Hermann. Aufgebracht fragt sie, „wie Das ist mit Ernst ist die Sach aufgehoben, oder ist es doch noch möglich dass Ernst fort komt“. In dem offensichtlich hektisch geschrieben Brief offenbart sich die Not von Frieda Weiß, weiter um den Sohn bangen zu müssen. Hintergrund ist die anstehende Anschaffung von Kleidung für Ernst. Hermann hatte Frieda Weiß – vermutlich mit Rücksicht auf die immer schlechter werdende Versorgungslage in Stuttgart – mitgeteilt, dass sie nicht „verpflichtet“ sei, dem Sohn neue Kleidung anzuschaffen, sondern vielmehr „ihr freier Wille“ dies zu tun. Frieda Weiß interpretiert diese Bemerkung als verklausulierten Hinweis auf eine anstehende Verlegung von Ernst Weiß: „[…] es fällt mir …. Auf weil ich ihm seith. Alles anschaffen musste […], Herr Inspector nehmen Sie mir nichts für übel, wen ich solche Fragen an sie stelle, denn wir wissen ja alle noch nicht, was über uns komt“.70
Zum darauffolgenden Winter gelingt es Frieda Weiß, einen warmen Mantel für Ernst zu besorgen. Mit offensichtlichem Stolz auf den wertvollen Besitz, bittet sie Hermann, dafür zu sorgen, dass der Mantel nicht nur mit dem Namen und der Nummer von Ernst gezeichnet wird, sondern dass er auch ggf. auf ihre Kosten passend gemacht wird, damit „Ernst einen guten Mantel hat, er soll nicht frieren“. Abschließend fügt sie hinzu: „Aber etwas müssen Sie mir versprechen sollte mit Ernst mal etwas sein, damit er keinen Mantel mehr braucht, so bitte ich Sie Hrn. Hermann mir diesen Mantel wieder zu schicken als Andenken“.71 Dieser Wunsch hängt sicher auch mit der materiellen Bedürftigkeit von Frieda Weiß selbst zusammen, doch zeigt sich auch hier wieder die latent bleibende Angst um den Sohn.
Doch auch Ernst Weiß selbst wurde von der Erfahrung der Verfolgung während der nationalsozialistischen Herrschaft geprägt und konnte die durch ständige Todesangst geprägte Zeit nicht ohne weiteres hinter sich lassen. Denn ebenso wenig wie die T4-Aktion vor den Angehörigen geheim zu halten waren, so wenig ließen sich die Betroffenen selbst dauerhaft täuschen. Die einschlägigen Berichte, vor allem von Seiten des Pflegepersonals, die vor allem mit den Strafprozessen, dem Nürnberger Ärzteprozess und den „Euthanasie“-Prozessen öffentlich wurden, machen deutlich, dass die Anstaltsinsassen schon früh über das ihnen zugedachte Schicksal Bescheid wussten und permanent in Angst lebten. Die Verlegungen gerieten nicht selten zum Tumult, weil Patienten sich weigerten, in die Busse zu steigen oder Fluchtversuche unternahmen.72
Im Umfeld von Ernst Weiß war dies nicht anders und die Bedrohung durch die „Verlegungen“ wurden ganz offensichtlich als unmittelbar bedrohlich empfunden und erzeugten unter den Anstaltsinsassen ein Klima der Angst. Das vermitteln auch die Erinnerungen einer Zeitzeugin, die zwischen 1940 und 1947 in einer nicht näher benannten Anstalt in Wilhelmsdorf untergebracht war. Die Epileptikerin schrieb als über 70jährige ihre Lebenserinnerungen auf. Der bleibende Eindruck von der Zeit der NS-Herrschaft war für Sie neben den Hungererlebnissen der Kriegszeit, vor allem das Gefühl existentieller Angst: „Aber bald kam die Zeit des 3. Reiches wo wir viel Angst ausstanden besonders wenn die Omnibusse vorfuhren, u. die Leute holten, das war eine Not. Gott half mir daß ich nicht mitgenommen werden durfte Eutanesie heißt es“. 73
Ein „Leben in ständiger Todesangst und im vollen Bewusstsein ihrer Hilfslosigkeit“74 muss zwischen 1933 und 1945 für die Insassen von Heil- Und Pflegeanstalten als bittere und vor allem nachhaltig wirkende Realität angesehen werden. Dieses Trauma prägte auch das Leben von Ernst Weiß langfristig. Seine Betreuer und engsten Bezugspersonen in der Behindertenhilfe der Zieglerschen schildern übereinstimmend die heftigen Erregungszustände, die Ernst Weiß befielen, wenn er allgemein mit Uniformen konfrontiert wurde oder gar im Fernsehen die Aufmärsche Uniformierter aus der NS-Zeit sowie deren einschlägigen Symbole sah. Ein Bild Adolf Hitlers bzw. dessen charakteristischer Oberlippenbart reichte, um ihn in Erregung zu versetzen. Hans Ruf, der Arbeitsbereichsleiter, erinnert sich konkret an einen Ausflug der Seniorengruppe (um 1990), der auch Ernst Weiß angehörte, ins Schulmuseum Friedrichshafen: Ernst Weiß war überaus interessiert und durchstreifte entspannt die Räume, die ihn offensichtlich an die eigene Schulzeit erinnerten, bis er Bilder und Symbole aus der Zeit der NS-Herrschaft entdeckte. Er erregte sich stark, was sich auch in abwehrenden Gesten äußerte und beruhigte sich erst langsam, nachdem er den Raum verlassen hatte. An ähnliche Situationen, auf die er stets mit „Toben“ und „Geschrei“ reagierte, können sich alle seine Kontakt- und Vertrauenspersonen aus den Zieglerschen erinnern.75
Die Traumatisierung der überlebenden Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung rückte erst Mitte der 1960er Jahre überhaupt in den Fokus der psychologischen Forschung. Die Fragestellung nach langfristigen psychischen Beeinträchtigungen infolge der nationalsozialistischen Verfolgung war im Deutschland der Nachkriegszeit Bestandteil der Entschädigungs- und „Wiedergutmachungsdebatte“ und von der defensiven Haltung führender Mediziner und Politiker geprägt, welche die Ausweitung „entschädigungspflichtiger Diagnosen“ scheuten.76 Mit ihrer „Psychiatrie der Verfolgten“ von 1964 erfassten Walter von Baeyer, Heinz Häfner und Karl Peter Kisker die Entstehungsweise und Tragweite psychischer Störungen bei Verfolgten des NS-Regimes erstmals auf empirisch breiter Basis und setzten sie mit der konkreten Verfolgung und Gewalterfahrung ursächlich in Verbindung.77 Dieser Durchbruch hin zu einem neuen Paradigma der Begutachtungspraxis, hatte langfristige Auswirkungen auch auf die Historiografie der Verfolgten der NS-„Euthanasie“. Ihre über die eigentliche NS-Zeit fortgesetzte Ausgrenzung, die kontinuierliche Infragestellung ihrer Individualität, ihrer Würde als handelnde und autonome Subjekte geriet zunehmend in den Blick und mündete in die Frage nach den „Möglichkeiten biografischen Erzählens und historischen Bezeugens“ dieser scheinbar vergessenen Opfergruppe.78 Die Arbeiten, die sich mit der Rekonstruktion von Einzelschicksalen beschäftigen, verfolgen dementsprechend als zentrales Anliegen, den Opfern ein Gesicht zu geben, sie als Individuen zu würdigen und ihre Biografien zu dokumentieren. Die meisten Biografien – und das gilt bis hierhin auch für die Lebensgeschichte von Ernst Weiß – sind rekonstruierte Lebensgeschichten auf der Basis von Verwaltungsakten und Krankengeschichten, die wiederum primär den Blick von Medizinern, Pflegepersonal und Verwaltungen auf den Patienten widerspiegeln.79 Egodokumente, die es ermöglichen, die Perspektive der Betroffenen wiederzugeben, sind überaus selten.
Ernst Weiß und seine Bilder können in diesem Zusammenhang als historischer Glücksfall bezeichnet werden: Sein kreatives Potential musste sich zwar unter widrigen, sogar tragischen Lebensumständen behaupten, war aber auch keinen therapeutischen, erzieherischen Überformungen ausgesetzt.
Durch seine vielfältigen Handicaps schon früh als „bildungsuntauglich“ angesehen, erhielt er doch zeitlebens, positive Resonanz auf seine Zeichnungen und Bilder, die für ihn eine besondere Form der Kommunikation und selbstreferenziellen Mitteilung waren.80
Obwohl Ernst Weiß seit seiner frühesten Jugend zeichnete und malte, sind keine frühen Bilder von ihm erhalten. Das gilt auch für seine Zeit in Weinsberg und obwohl er auch hier als begabter Zeichner auffiel und in seinem Beobachtungsbogen sogar vermerkt wurde, dass er „Flugzeuge und anderes“ zeichne, sind in seiner Krankenakte keine Bilder überliefert.81
Zudem kam es im Oktober 1977 im Haus „Höchsten“, in dem auch das Hausarchiv untergebracht war, zu einem Brand, bei dem vermutlich auch zahlreiche Zeichnungen von Ernst Weiß zerstört wurden, so dass heute davon ausgegangen werden muss, dass nur noch die Bilder existieren, die Ernst Weiß seit dieser Zeit vorrangig in seiner Wohngruppe und in der Malwerkstatt der Zieglerschen schuf. Insgesamt sind heute über 800 Zeichnungen von ihm bekannt. Seine Malutensilien waren handelsübliche Buntstifte und Wasserfarben, der Malgrund einfachste Malblöcke überwiegend in Din A4 oder Din A3.
Ernst Weiß malte autonom, bestimmte den Inhalt seiner Bilder selbst, ließ sich kaum anleiten, machte zwar bei einigen Malprojekten innerhalb der Zieglerschen mit, ließ sich auch kurzfristig durch äußere außergewöhnliche Anregungen inspirieren,82kehrte aber immer wieder zu seinem Sujet zurück. Das Thema seiner Bilder ist die landwirtschaftliche und künstlerische Arbeit. Seine Motive spiegeln das ländliche Leben im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dabei wirken die dargestellten Bewegungsabläufe von Mensch und Tier natürlich, zielgerichtet und von einem inneren Antrieb beseelt.
Auf den ersten Blick erscheinen die Bilder von Ernst Weiß als farbenfrohe Landschaften, die von zahlreichen in Bewegung und Aktivitäten befindlichen Personen bevölkert werden. Unmittelbar auffällig ist die sorgfältige und akkurate Gesamtkomposition. Weiß fertigte für seine Bilder immer erst eine komplette Vorzeichnung. Mit Akribie und unter Einsatz des ständig griffbereiten Radiergummis setzte er seine Bildwelten aus den weitegehend immer selben Motiven zusammen, ohne dabei jedoch jemals ein Werk zu kopieren.
So zahlreich die Darstellungen von Menschen in seinen Bildern auch sind, Ernst Weiß malte keine Individuen. Seine Figuren sind stark typisiert. Neben Männern und Frauen sind als besondere Personengruppe einzig die liebevoll gezeichneten Pietisten zu identifizieren, mit ihren steifen Hüten, die älteren zudem mit weißen langen Bärten, die jüngeren mit voluminösen, kurzen Hosen und langen Strümpfen. Die anderen Figuren sind in variationsreicher Farbigkeit gestaltet, kaum eine Figur ist der anderen farblich gleich. Sie tragen Arbeitsgeräte, beladen Wagen, schieben Schubkarren oder ziehen Handwagen. Alle dargestellten Personen in seinen Bildern sind in fortgesetzter Bewegung. Selbst die sitzenden Figuren befinden sich mehrheitlich in Fahrzeugen, d. h. in Kutschen und Bussen, seltener in Autos und werden so ebenfalls in Bewegung gebracht.
Der Eindruck eines „Wimmelbildes“ könnte entstehen, wenn innerhalb des Bildraumes bzw. der Weiß’schen Landschaften nicht außerdem Taschen, Pakete, Kleidungsstücke und Malutensilien als Bildelemente auftauchen würden. Sie sind integraler Bestandteil von Ernst Weiß‘ Bildwelt und fallen dem Betrachter durch ihre verglichen mit den übrigen Bildelementen überdimensionierte Größe auf. Ernst Weiß setzt diese Bildelemente gemäß der ihnen für ihn innewohnenden Bedeutung ein. Wie auch auf Kinderzeichnungen zu beobachten setzt er ganz selbstverständlich die Bedeutungsperspektive ein, um die für ihn wichtigen Bildelemente gebührend in Szene zu setzen.
Setzt man Ernst Weiß‘ Malerei mit seinen Lebens- und Überlebensumständen in Beziehung, so wird in seinen Bildern unschwer eine höchst komplexe künstlerische Umsetzung von Lebenserfahrungen und Selbstreflexionen sichtbar. Die arbeitenden, in permanenter Aktion befindlichen Figuren bilden das allgemeine Tableau, vor dem er sein eigentliches Thema entfaltet. Mit den Malutensilien sowie den Taschen, Paketen und Kleidungsstücken stellt er sich selbst und seine fürsorgende Familie symbolisch dar. Als Ganzes betrachtet, bezeugen die Bilder sein (Über-)Leben und seine persönliche Selbstbehauptung.
Die vordergründig heitere und harmlose Anmutung und die liebevoll, detaillierte Kleinteiligkeit seiner Bilder – die ihnen immer wieder die Zuschreibung „naiv“ einbrachte83 – dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in ihnen die Traumata von Verlegung, Selektion und Todesangst präsent sind. Mit seiner Verlegung nach Weinsberg musste er – um sein Leben zu retten – seine „Arbeitsfähigkeit“ unter Beweis stellen. Diese Situation muss ihm bewusst gewesen sein und wurde zur prägenden Erfahrung seines weiteren Lebens. Das zeigt auch ein genauerer Blick auf seinen Beurteilungsbogen. Ernst Weiß arbeitete gemäß den Zeugenaussagen in Wilhelmsdorf vorrangig im häuslichen Bereich. Im Einzelnen erledigte er Aufräumarbeiten und Tischdecken, das Einlagern von Kartoffeln im Keller, das Verbringen der Kartoffeln in die Küche, usw. Draußen beschäftigte er sich nach dem Krieg gerne als Straßenkehrer. Von sich aus bevorzugte er einfache Arbeitsabläufe innerhalb oder in der Nähe des ihm vertrauten Hauses, die an die körperliche Kraft und die motorische Geschicklichkeit keine hohen Anforderungen stellten.84
In Weinsberg wurden die männlichen Insassen jedoch vorzugsweise in den zur Anstalt gehörenden landwirtschaftlichen Betrieben, einer Gärtnerei und vor allem der Domäne eingesetzt.85 Für Ernst Weiß war es offensichtlich nicht leicht, sich auf diese Arbeitsbereiche überhaupt einzustellen. So vermerkt sein Beurteilungsbogen für die ersten drei Wochen seines stationären Aufenthaltes, dass er mit den anderen Taubstummen zwar „in der Zeichensprache“ kommunizieren könne, sich aber „gesondert“ verhalte. Die versuchsweise Beschäftigung in der Gärtnerei wird offenbar aufgrund seiner schwächlichen Konstitution und seiner geringen Leistungsfähigkeit abgebrochen. Ernst Weiß hilft im Haus, explizit beim „Betten reinigen“, stellt sich aber „nicht sehr geschickt an“. Ausdrücklich wird in diesem Zusammenhang vermerkt, dass er nicht – wie wohl vorgesehen – „mit der Truppe arbeiten geht“. Nach dem ersten Besuch der Mutter am 11. Mai 1941 kann man eine deutliche Veränderung im Arbeitsverhalten von Ernst Weiß feststellen. Zwar wird seine reine Arbeitsleistung nach wie vor als „gering“ eingestuft und auch seine Ungeschicklichkeit wiederholt erwähnt. Doch nun geht Ernst Weiß „mit der Karrengruppe Arbeiten“. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser Wandel unter Einfluss von Frieda Weiß herbeigeführt wurde. Entscheidend für die Begutachtung Ernst Weiß‘ war es jedoch, dass er nun regelmäßig bis zum Ende seiner Zeit in Weinsberg mit der „Karrengruppe ausrückt“ und mit anderen Anstaltsinsassen gemeinsam zumindest „ordentlich“ arbeitete.86
Die überaus zahlreichen Varianten verschiedener Handwagen und Karren, die Ernst Weiß mit großer Liebe zum Detail ins Bild setzt, dürften unmittelbar auf diese Tätigkeit zurückgehen. Aus dem Beobachtungsbogen von Ernst Weiß geht außerdem hervor, dass er mit seinen Zeichnungen auffiel und offenbar in der Klinik bekannt wurde. Auf dem Beobachtungsbogen wurde nicht nur mehrfach notiert, dass Ernst Weiß „viel zeichnet“, sondern auch, dass er – entgegen seiner sonstigen Unbeholfenheit – „dabei etwas Geschick“ zeigte. Seine zeichnerischen Fähigkeiten machten Ernst Weiß innerhalb der Heilanstalt bekannt und wurden auch von Anstaltsleiter Jooss ganz selbstverständlich zusammen mit seiner Tätigkeit auf dem Anstaltsgut erwähnt: „Er beschäftigt sich im Freien, in den Arbeitspausen macht er wie immer seine Zeichnungen“.87
Ebenso wie sich die Arbeit der „Karrengruppe“ in den Bildern von Ernst Weiß niederschlägt, so thematisierte er auch das Malen als Vorgang. Zwischen den umherlaufenden, tätigen Personen findet sich in nahezu jedem Bild eine stehende Staffelei mit einem Bild. Das Bild auf der Staffelei zeigt maßstabsgerecht klein aber unverkennbar eine seiner typischen Landschaften. Damit nicht genug, kombinierte Ernst Weiß die Staffelei vielfach mit einem Tisch, an dem eine oder mehrere – meist männliche – Personen sitzen, die das Bild betrachten. Weiß entwarf hier eine Begutachtungs- oder Prüfungsszene. In der Regel steht eine weitere Person an der Staffelei, die auf das Bild zeigt oder sogar mit einem großen Pinsel oder Stift gerade vollendet. Oft werden auch diese Szenen durch die besondere Größe der Figuren im Bild hervorgehoben. Die Haltung der sitzenden Figuren kann dadurch zusätzlich dominant wirken, was Weiß meistens schon durch die Körperhaltung mit aufgestützten Armen erreichte. Dennoch wirken diese Szenen nie bedrohlich. Oft sieht man an Bild und Staffelei weitere Figuren, die das Bild (bewundernd) betrachten. Bild und Künstler, so der unmittelbare Eindruck, halten dem Urteil der Begutachter stand.
Weiß war sich seiner künstlerischen Tätigkeit nicht nur bewusst und sah sie als vollwertige „Arbeit“ an. Mittels seiner Kunst konnte er seine traumatischen Erfahrungen in einen neuen Sinnzusammenhang stellen: Als autonomer Künstler, der aus sich selbst und seiner Erfahrungswelt heraus produzierte, legte er den Opferstatus ab. Er war nicht länger das Objekt einer menschenverachtenden Selektion. Die Zeit in Weinsberg klingt noch nach und mündet in seinen Bildern in eine permanente Selbstreflexion, die aber letztlich zum immer selben Schluss kommt: Die Kunst von Ernst Weiß und damit die Totalität seiner Person wurden zwar einer Begutachtung unterworfen, der „positive“ Ausgang dieser „Überprüfung“ stand jedoch außer Frage.
Dieser Akt der Selbstermächtigung bedurfte aber der ständigen Erneuerung und Wiederholung, um Bestand zu haben. Weiß malte seine immer gleichen Landschaften aus einem nicht erlahmenden inneren Antrieb heraus: Durch den künstlerischen Akt musste er sich beständig selbst vergewissern, als Opfer der NS-„Euthanasie“ nicht mehr ohnmächtig und hilflos ausgeliefert, sondern als Überlebender gesehen, anerkannt und respektiert zu sein. Das zurückliegende Geschehen bleibt in den Bildern symbolisch präsent. Denn trotz ihrer detaillierten Genauigkeit sind die Landschaften von Ernst Weiß keine an der Realität orientierten Landschaften, sondern Weiß zeichnete sein inneres Erleben als landschaftliches Panorama.
In diesem Zusammenhang kommt der Darstellung des Waldes in Ernst Weiß‘ Arbeiten zentrale Bedeutung zu. Das Wald-Motiv nimmt in fast allen seinen Bildern einen zentralen Platz ein, erweist sich jedoch in der konkreten Darstellung als sehr wandelbar: Von einem Weg erschlossen, aus einzelnen hochstämmigen Bäumen bestehend, zeigts sich der Wald als Raum für Spaziergänge, als dunkle geschlossene, nahezu abstrakt gestaltete Farbfläche mit gezackten, abweisend wirkenden Außengrenzen wird er dagegen undurchdringlich – für die im Bild dargestellten Personen ebenso wie für das Auge des Betrachters.
Mit den Walddarstellungen schuf Ernst Weiß ein komplexes Symbol für seine Erinnerungen und Ängste88
In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass Ernst Weiß einzig forstwirtschaftliche Arbeiten konkret ins Bild setzte. Die übrigen Arbeiten seiner Figuren bestehen lediglich im Transport von Arbeitsgeräten, Malutensilien, Mobiliar, Paketen und Taschen, eigentliche Arbeitsvorgänge und ihre Produkte sieht man nicht. Am „Erinnerungs-Wald“ hingegen machen sich seine Figuren zu schaffen: Der Transport von gefällten Bäumen, gestapelte Baustämme und aufgeschichtetes Brennholz weisen auf die harte Erinnerungsarbeit hin, die Ernst Weiß mit seiner Malerei fortwährend zu leisten hatte.
Damit zeigt sich eine weitere Dimension der Weißschen Malerei. Seine Betreuer weisen geschlossen und übereinstimmend darauf hin, dass es ihm ein Anliegen war, über die Bilder eine kommunikative Situation zu schaffen. Mit dem Gegenüber gemeinsame „Ausflüge“ in seinen Bildern zu machen, bescherte ihm glückliche Momente.89
Mittels seiner Zeichnungen gelang es Ernst Weiß, seine belastenden Erinnerungen zu dokumentieren und mitzuteilen. Ob sie ihm auch „die heilende Wirkung biographischen Erzählens“90
ermöglichten, darf man hoffen. Als grandioses Zeugnis der Selbstbehauptung und des Überlebenswillens eines Opfers der NS-„Euthanasie“ sind sie einzigartig.
Der künstlerische Nachlass von Ernst Weiß befindet sich seit 2013 bei der Aktion-Kunst-Stiftung in Soest.
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