Gerda Magdalena Nitschke (geb. Gronert)

aus Berlin

geb. in Berlin
gest. in Großschweidnitz (Sachsen)

unscharfes Photo einer Frau mit Hut. Sie trägt einen Trenchcoat und eine Blume am Revers.

Biografie

gerda magdalena nitschke, geb. gronert wurde am 21.10.1914 in berlin SO 36, in kreuzberg geboren. mit 20 jahren heiratete sie alfred nitschke. mit knapp 22 jahren wurde sie mutter.

 

die erkrankung

gerda nitschke erkrankte bei der geburt ihres sohnes an kindbettfieber und erlitt, wie sie später sagte, einen „nervenzusammenbruch“. möglicherweise litt sie an einer wochenbettdepression oder –psychose. der begriff nervenzusammenbruch wird umgangssprachlich zur beschreibung einer psychisch extrem belastenden situation verwendet. möglicherweise war die geburt für sie traumatisierend, möglicherweise war sie durch kriegstraumata als kleinkind im 1. WK oder durch andere erfahrungen belastet. offenbar heilte ihre erkrankung nicht, denn sie wurde ein jahr nach der geburt ihres kindes im sommer 1937 erstmals nach buch in eine NS-psychiatrie eingewiesen. über den zeitraum von 2 ½ jahren wurde sie viermal patientin in buch und nach kürzeren aufenthalten wieder entlassen, zum vierten mal wurde sie direkt nach kriegsbeginn eingewiesen, nachdem sie zuvor ein jahr mit ihrer familie zusammengelebt hat. im herbst 1940 wurde sie aus der NS-psychiatrie buch in die psychiatrische anstalt wittenau in berlin verlegt. dort wurde das T4-euthanasie-programm umgehend und akribisch umgesetzt.

stationen durch die NS-psychiatrie

gerda nitschke hat insgesamt 8 ½ jahre in der NS-psychiatrie verbracht. sie erhielt die diagnose „schizophrenie“, eine standard-diagnose, die in der NS-zeit der hälfte der psychiatrie-patient:innen zugewiesen wurde. mit ihrer einweisung in die anstalt wittenau im herbst 1940 entkam sie der NS-psychiatrie nicht mehr. nach einem halben jahr in wittenau wurde sie in eine anstalt nach landsberg an der warthe verlegt, ca. 130 km östlich von berlin, wo sie 3 jahre blieb. im märz 1943 wurde sie von dort in eine anstalt nach plagwitz am bober verlegt, ca. 120 km weiter südlich in schlesien, im heutigen polen. dort blieb sie 2 jahre. 

ende januar 1945 hatten sich russische truppen in diese gegend vorgekämpft und die klinik entließ ihre patient:innen: sie durften gehen. gerda lief mitten im winter 1945 80 km nach westen. vermutlich wollte sie nach berlin zu ihrem kind und zu ihrer mutter. sie kam bis zittau und fand für ein paar tage ein quartier in einem kinderheim, dort wurde sie einem polizisten gemeldet, der sie auf das gesundheitsamt brachte. ein amtsarzt aus zittau überwies sie in die anstalt großschweidnitz. gerdas befragung bei der aufnahme in großschweidnitz am 21.2.1945 ist in ihrer akte, die in dresden archiviert ist, ordentlich getippt erhalten. sie erzählt, dass die patient:innen in plagwitz „herausgelassen“ wurden, als die „russen im anmarsch waren“, sie erhielt weder papiere noch etwas zu essen, als sie gehen durfte. in der anstalt in plagwitz habe sie bei ärzten im haushalt mitgeholfen u. deren kinder versorgt, in ihrer freizeit gestrickt. weil sie in der lage war, für ärzte der anstalten zu arbeiten, hat sie sie viele jahre in der NS-psychiatrie überlebt. gerda sagt, „sie möchte gern wieder entlassen sein, da sie sich ganz gesund fühle.“ als grund für ihre einweisung in eine anstalt nennt sie das kindbettfieber und einen nervenzusammenbruch, nach dem sie apathisch gewesen sei u. nicht essen u. trinken konnte.

gerda wiegt bei der ankunft in großschweidnitz 46 kg bei einer größe von 1,63 m. auf die frage, ob sie stimmen gehört habe, antwortet sie, „nein, gar nicht“. Ihr wird ihr in der psychiatrischen anstalt großschweidnitz attestiert: 

„o.b.“: ohne befund. „keinerlei klagen.“ die patientin sei zugänglich und geordnet. als diagnose wird attestiert: abgeklungene schizophrenie. 

eine woche vor gerdas aufnahme in großschweidnitz wurde ganz in der nähe dresden zerbomt und bei den angriffen der britischen alliierten starben ca. 25 000 menschen. in der tötungsanstalt großschweidnitz findet man dennoch zeit, protokolle zu tippen über ein interview mit einer entlassenen, als gesund eingeschätzten ehemaligen psychiatrie- patientin. eine woche nach der aufnahme in großschweidnitz gibt es in der krankenakte einen weiteren eintrag. jetzt wendet sich das blatt, denn gerda ist mit der erneuten einweisung nicht einverstanden: gerda sei „immer vorlaut, weiß alles besser. ... lässt sich nichts sagen.“ eine weitere woche später: sie „hat immer allerhand wünsche und beschwerden. fügt sich schlecht.“ es ist der falsche ort und die falsche zeit für eine junge frau, die ihre freiheit und ihr leben zurück möchte. sie hat hier keine chance. sie sei ruhiger und matt, entnehme ich dem protokoll eine woche später, sie fühle sich nicht wohl. sie „wird eingebettet.“ dies ist vermutlich ein synonym für fixiert, angeschnallt. 

gerda nitschke wurde in großschweidnitz ermordet. als todesdatum wird der 12.3.1945 angegeben. sie wurde dort durch überdosierte beruhigungsmittel und unterernährung getötet.1als todesursache wird pneumonie angegeben, lungenentzündung, eine standard- todesursache in NS-psychiatrien. sie starb mit 30 jahren. ihr sohn und ihre angehörigen haben nie erfahren, welchen weg sie gegangen ist, an welchen orten sie zuletzt interniert war und wann, wo und wie sie gestorben ist. 

gerda nitschke hat so viel pech gehabt. sie wurde am anfang des 1. WK geboren und starb nur sieben wochen vor ende des 2. WK. sie wurde nach 8 ½ jahren aufenthalten in NS- psychiatrien in plagwitz während der auflösung der anstalt frei gelassen. auf ihrem weg nach westen wurde sie einem polizisten übergeben, der sie dem gesundheitsamt und dieses wiederum der NS-psychiatrie großschweidnitz übergab. gerdas mutter emma salewski, geb. gronert war ihre verbündete und hat sie als mutter und als ihre pflegerin so lange sie konnte, unterstützt. gerdas ehemann alfred nitschke hatte weniger geduld und empathie. 1938 hat er eine scheidungsklage gegen gerda eingereicht, 1941 wurde die ehe geschieden. „nitschke gegen nitschke“ heißt die klage in der pflegschaftsakte des landesarchivs berlin. gerdas sohn wolfgang hat seine mutter sein ganzes kurzes leben vermisst.

über den umgang der familie mit gerdas krankheit

über meine großmutter gerda nitschke existieren keine geschichten, keine erzählungen und keine gegenstände, die an sie erinnern. über meine oma wurde nicht gesprochen. mein vater hat seine mutter bei seiner geburt verloren. sie erkrankte bei seiner geburt 1936 an kindbettfieber, der rest blieb für mich lange ein geheimnis und ein rätsel. dennoch hat mich ihr schicksal immer beschäftigt und habe ich versucht, mir aus dem wenigen, was ich als kind über sie wahrgenommen habe, ein bild zu machen und zu verstehen, was mit ihr passiert ist. es gibt nur ein foto von ihr, das sie ernst, mit tiefen augenringen, stehend mit ihrem kind im kinderwagen zeigt. sie ist sorgfältig gekleidet mit einem trenchcoat, einem schräg sitzenden kleinen hut und einer blume am revers. ihre hand hält den kinderwagen ihres sohnes, der ein knappes jahr alt ist und vor dem ein paar spielzeug-tiere auf dem kinderwagen liegen. 

Bild
Eine Frau steht. Sie wirkt ernst, mit tiefen augenringen, stehend mit ihrem kind im kinderwagen zeigt. sie ist sorgfältig gekleidet mit einem trenchcoat, einem schräg sitzenden kleinen hut und einer blume am revers. ihre hand hält den kinderwagen ihres sohnes, der ein knappes jahr alt ist und vor dem ein paar spielzeug-tiere auf dem kinderwagen liegen.
gerda nitschke mit ihrem kind wolfgang, ca. 1936.

gerdas sohn starb jung, 1970. angehörige, die gerda nitschke kannten, leben seit den 70er jahren nicht mehr. gerdas ab 1941 geschiedener ehemann galt lange als vermisst, er starb im februar 1945 als soldat in der nähe von königsberg, offenbar nur wenige wochen vor ihr. es gibt schon lange keine zeitzeugen mehr oder deren nachfahren, die gerda nitschke und ihre geschichte kennen. 

das schweigen von gerdas sohn, meinem vater, deute ich folgendermaßen: er hat seine mutter nur als kleinkind erlebt und hatte dadurch nur wenige authentische erinnerungen an sie. ihre geschichte war für ihn als berliner kriegskind, das bis auf wenige angehörige alle verwandten im krieg verloren hatte, so schmerzhaft, dass er nicht über sie sprechen konnte. möglicherweise wollte er mich als kind vor den abgründen des NS-regimes bewahren. die letzten stationen seiner mutter durch die NS-psychiatrie kannte mein vater nicht. er nahm sicher an, dass sie in einer psychiatrischen anstalt gestorben war, aber er sprach nicht darüber. 

eine recherche zu seiner mutter wäre in seiner zeit ergebnislos geblieben. die gruppe der psychiatrie-opfer im NS-regime war eine lange stigmatisierte und verdrängte opfergruppe. die zugehörigkeit zu den kranken war für viele familienangehörige mit ambivalenten und schmerzhaften gefühlen verbunden, möglicherweise mit ausgrenzung. die traumatisierte kriegskinder-generation musste ohne professionelle hilfen auskommen und ihre verluste und traumata allein bewältigen. viele konnten ihre traumata nicht bewältigen. die für uns nachgeborenen üblichen psychotherapeutischen angebote entstanden erst in und nach den 1980er jahren.

recherche

als gerda nitschkes enkelin habe ich meine wahrnehmung im dickicht aus schweigen, andeutungen und unterdrückten gefühlen der erwachsenen geschult. die ahnung, dass meine großmutter als opfer der NS-psychiatrie starb, entstand in meiner jugend. in den 1990er jahren suchte ich erstmals digital und in archiven nach ihr, kam jedoch mit der recherche nicht weiter. ihre akte war nicht unter den 30 000 opfern der NS-psychiatrie, die nach der wiedervereinigung in ddr-archiven gefunden worden waren u. seitdem im bundesarchiv liegen. das bundesarchiv machte mir um das jahr 2000 herum wenig hoffnung, dass ich mit meiner suche erfolg haben würde. 

letztlich hat mich der zufall im sommer 2023 auf die richtige spur geführt. bei einer bildrecherche landete ich auf einer genealogie-website, auf der ich den namen meiner großmutter eingab und von der ich zur website der früheren NS-psychiatrie großschweidnitz geführt wurde. hier war gerda nitschke im märz 1945 ermordet worden. großschweidnitz ist erst im mai 2023 als gedenkstätte eingeweiht worden. die mitarbeiter:innen haben die namen der 5500 dort getöteten kranken ins internet gestellt. das landesarchiv in dresden hat gerda nitschkes krankenakte aus großschweidnitz aufbewahrt, im landesarchiv berlin ist eine umfangreiche pflegschaftsakte archiviert. aus diesen akten erfuhr ich im sommer 2023 den weg, den gerda nitschke vom juli 1937 bis märz 1945 durch die NS-psychiatrie gegangen ist. es ist geplant, einen stolperstein für gerda nitschke an ihrem letzten wohnort in berlin kreuzberg zu verlegen.

dank

ich danke götz aly fü sein engagement, seine forschung und literatur zur NS-euthanasie. allen mitarbeitenden der gedenkstätte T4 und dieser website danke ich für ihr engagement. herzlichen dank an christiana hoppe, mitarbeiterin der stolpersteininitiative im bezirk friedrichshain-kreuzberg, für ihre unterstützung bei meiner recherche.

quellen

landesarchiv berlin: pflegschaftsakte des amtsgerichtes berlin-mitte

sächsisches staatsarchiv: akte aus großschweidnitz

sylvia nitschke, enkelin | 8.2023


Fußnoten

  1. Über 5500 Frauen, Männer und Kinder wurden durch überdosierte Beruhigungsmittel, Unterernährung und mangelnde Pflege ermordet.“ https://www.stsg.de/cms/grossschweidnitz/grossschweidnitz [back...]

Orte der Biografie

Geburtsort: Berlin

Berlin
Deutschland

Großschweidnitz
Deutschland

Gorzów Wielkopolski
Polen

Weitere Orte: Płakowice

unbekannt 1
59-600 Lwówek Śląski
Polen

Oranienburger Straße 285
13437 Berlin
Deutschland

Hauptaufenthaltsort: Berlin

Berlin
Deutschland

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