Helene Krötz
aus Schorndorf
geb.
in
Oberurbach (Baden-Württemberg)
gest.
in
Grafeneck
aus Schorndorf
geb.
in
Oberurbach (Baden-Württemberg)
gest.
in
Grafeneck
Der 18. September 1940 ist Helenes letzter Lebenstag. Es ist ein Mittwoch. Die dritte Jahreszeit hat die Blätter, die auf den Wegen rund um den Gebäudekomplex der Anstalt Stetten liegen und im leichten Herbstwind tänzeln, in gelbliche und rötliche Töne gefärbt. Der Himmel ist an diesem Morgen bewölkt. Es ist kühler geworden. Der Tag zuvor ist sonnig gewesen und spätsommerlich warm. Helene verbrachte diese Stunden wohl im Garten, in dem sie sich immer gerne aufhielt. Nun hängen die Wolken über dem Mädchenhaus, in dem sie seit vielen Jahren lebt. Sie teilt das Zimmer mit anderen Pfleglingen.
Helene ist 21 Jahre alt, als in Stetten an diesem Vormittag zum dritten Mal in jenem Jahr die grauen Busse vorfahren. Der Transportleiter und das Begleitpersonal in weißen Kitteln steigen aus den Fahrzeugen. Auf der alphabetischen Transportliste stehen viele weibliche Namen und ein männlicher. Sie sind nummeriert. Helene Krötz hat die Nummer 64. Beim Einstieg schreibt der Busfahrer diese Zahl mit Tintenstift auf ihren Handrücken. Helenes Hausvater, Rektor Fritz Rupp, bestätigt schriftlich, dass „der Transportleiter weder Schmucksachen noch Geld, noch Kleider von den Pfleglingen mitbekommen hat“. Ob Helene wohl ihre geliebte kleine Puppe mit den kleinen schwarzen Schühchen mitnehmen darf?
Die Stettener Anstaltsleitung kann dem Transportleiter sieben Frauen abverhandeln. Helene Krötz ist nicht darunter. Sie muss in den Bus. Auch die Scheiben sind grau gestrichen. Kein Rausschauen, kein Reinschauen. Vielleicht wähnt sie sich auf einem Ausflug, vielleicht ahnt sie, wohin die Reise geht? Die Kolonne fährt davon. Eine Fahrt in den Tod. Die rund 100 Kilometer führen von Stetten über den Schurwald nach Reutlingen, hinauf auf die Alb, vorbei am Gestüt Marbach. Das ist die Wegstrecke nach Grafeneck. Bauern halten bei der Ernte am Wegrand inne und nehmen die Strohhüte ab. Am Gestütsgasthof Marbach biegen die Busse links ab. Hier kehren manchmal die Grafenecker Angestellten ein, betrinken sich und prahlen von ihrer geheimen Arbeit. Die Busse fahren einen steilen Schotterweg hoch und biegen ein in die Schlossallee. Hier liegt hinter Bretterwänden ein Barackengelände. Angetrieben von barschen Befehlen der in Medizinerkitteln gekleideten Männer und Frauen taumeln Helene Krötz und die anderen in eine Baracke mit frisch bezogenen Betten. Vor dem Abendessen sollen sie duschen. Zuvor werden sie untersucht. Die Ärzte suchen eine glaubwürdige Todesursache, die sich nachher in die Sterbeurkunden mit dem gefälschten Datum hineinlügen lässt. Helene steht nackt vor den Männern. Beim Gang über den Hof zur Duschbaracke wird ihr ein Militärmantel umgehängt. Die Frauen schieben sich in engem Gewühl unter die Brauseköpfe. Die Tür wird verrammelt. Ein Arzt dreht die Kohlenmonoxidflaschen auf. Er kann die Wirkung durch ein Guckloch beobachten: Schreie, Hände schlagen mit letzter Kraft an die Tür, Aneinanderklammern, Flehen, Blut. Nach zwanzig Minuten hört man kein Lebenszeichen mehr. Auch Helene Krötz ist tot. Die Leichen kommen in Ölöfen.
Hoch über diesem idyllisch gelegenen Ort quillt der Rauch aus den Schornsteinen. Unten im Dorf überzieht der Ruß die weißen Bettlaken, die frisch gewaschen auf den Wäscheleinen hängen….
Dienstag, 24. Januar 2011: Im Speisesaal der Diakonie Stetten räumt Anna Steiner (Name geändert) die Tische ab und bringt das gebrauchte Geschirr vom Mittagessen in die Küche. Sie ist 70 Jahre alt und seit vielen Jahren Bewohnerin der Diakonie. Anna ist behindert. Am Tisch gegenüber sitzt Gaby Widmann (Name geändert). Auch sie ist behindert. Sie poliert mit einer Serviette ihren rotbackigen Apfel. „Jetzt sieht er schön aus, den esse ich heute Nachmittag, ich freu mich schon drauf,“ sagt sie und strahlt mich an. Anna wünscht mir einen schönen Tag, als ich mich von ihr verabschiede. Am Vormittag hatte ich zusammen mit Pfarrer Matthias Binder in der Schloßkapelle vor einer großen Schülergruppe über das Schicksal meiner Tante, Helene Krötz, berichtet. Sie war die Schwester meiner Mutter.
Helene Krötz wird am 20. April 1919 in Oberurbach geboren. Einige Wochen später, am 11. Mai, wird sie in der Urbacher Afrakirche getauft. Sie ist das achte Kind von Wilhelmine und Friedrich Krötz. Das Ehepaar betreibt das Gasthaus Lamm und eine Metzgerei. Im Obergeschoss befindet sich die Wohnung der Wirtsleute und ein großer Saal, im dem viele Hochzeiten, Jubiläen, Konfirmationen gefeiert werden. Die Kochkünste von Wilhelmine Krötz und die Fleisch- und Wurstwaren von Metzgermeister Friedrich Krötz werden sehr gelobt. Helene hatte fünf Schwestern , Berta, Emma, Elise, Paula und Lydia – die Jüngste, sowie drei Brüder - Adolf, Eugen und Hermann.
Helene kommt schwächlich zur Welt. Immer wieder wird sie von Krankheiten gebeutelt. Eine Hirnhautentzündung im frühkindlichen Alter führt zur geistigen Behinderung. Sie spricht im Alter von drei bis vier Jahren nur wenige Worte. Sie lernt sehr spät laufen. „Helene ist gutmütig, sie spielt mit ihrer zweieinhalbjährigen Schwester zusammen mit Strohhalmen und Puppen,“ heißt es in einem ärztlichen Notat von Dr. C. Hartmann aus Schorndorf, den die Eheleute öfters aufsuchen. Seine Diagnose lautet: „Helene Krötz ist nach geistiger wie körperlicher Verfassung als an Idiotie leidend zu bezeichnen. Sie bedarf steter Aufsicht und Fürsorge und wäre weitaus am besten in einer entsprechenden Anstalt unterzubringen.“ Diesem Rat folgt das kinderreiche Elternpaar. Am 29. Januar 1926 kommt Helene Krötz in die Heil- und Pflegeanstalt Stetten. Die Kosten bezahlt Friedrich Krötz. Sie bleibt dort 14 Jahre lang bis zu ihrer Ermordung. Helene lebt im Mädchenhaus. Ihr Hausvater ist Fritz Rupp, der Rektor der Anstaltsschule. Er ist ab August 1939 auch der Stellvertreter von Pfarrer Ludwig Schlaich, dem Inspektor und Leiter der Anstalt Stetten.
Schlaich schreibt im Jahresbericht der Anstalt Stetten im Jahre 1933: „Wir haben die großen Hitlerreden gemeinsam gehört, haben den herrlichen Film vom Reichsparteitag in unserer Turnhalle gesehen.“
Als Hitler die Macht ergriff, nahmen Schlaich und seine Mitarbeiter „regen Anteil an dem großen Geschehen unserer Tage“.
„Helene fühlt sich hier geborgen. Heimweh kennt sie nicht. Ihre Eltern und Geschwister hängen arg an ihr. Alle paar Wochen kommt eine der Schwestern zu Besuch. Sie sorgen für alles, was sie braucht und schicken manches Päckchen. Die Namen ihrer Schwestern verwechselt sie. Helene ist sehr nett und anschmiegend. Durch Liebe und gute Worte läßt sich sehr viel bei ihr erreichen. Sie hat rasch einen Zorn, um aber unter Tränen zu lachen und zu sagen, gell Tante magst mich wieder? Wenn sie wütend ist, beißt sie sich in den Handrücken. Bei Lob freut sie sich über die Maßen. Wenn sie muss, spricht sie gut in Sätzen. Helene lügt und stiehlt nicht mit Bewusstsein. Sie kennt die Begriffe nicht,“ notieren Pflegerinnen in den alljährlich verfassten Berichten.
Lesen, rechnen und schreiben fällt ihr sehr schwer. Den Text eines Liedes kann sie sich nur schwer merken, „aber umso besser die Melodie,“ notiert eine ihrer Pflegerinnen. Sie hört gerne Radio und Musik. Helene ist ordnungsliebend. Auf gepflegte Kleidung legt sie großen Wert. „Arbeiten kann sie nicht, sie hat auch kein Geschick dazu,“ wird in den Akten notiert. Sie geht am liebsten spazieren und streift durch den Garten. Helene hat gerne ihre Puppe im Arm. „Und immer muss sie einen Stecken bei sich haben. Dann ist sie zufrieden.“
In die Anstaltsschule geht sie vermutlich nur bis 1929. In den vorliegenden Schulberichten aus den Jahren 1926 bis 1929 dokumentieren die Lehrkräfte sie sei „sehr zerstreut und deshalb ist nicht viel zu holen bei ihr, das Gedächtnis ist sehr schwächlich, beim Sprechen macht sie Fortschritte…“
Während ihres 14jährigen Aufenthalts in der Heil- und Pflegeanstalt heiraten ihre Geschwister und gründen ihre Familien. Helene Krötz wird am 29. Mai 1933 zum ersten Mal Tante. Ihre Schwester Emma bekommt einen Sohn. Ihre Schwestern Elise und Berta werden 1939 zum ersten Mal Mutter. Wilhelmine Krötz schreibt die Namen der Enkelinnen und Enkel in die Familienbibel. 12 Enkel sind es im Verlauf vieler Jahre. Helenes ältere Brüder Adolf und Eugen arbeiten längst als Metzger im elterlichen Betrieb. Ihr jüngster Bruder Hermann wird Bäckermeister und 1938 zum Arbeitsdienst eingezogen. Die Besuche von Helenes Schwestern in Stetten werden in den Jahren 1939 und 1940 immer seltener.
Als am 1. September mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg beginnt, haben 22 männliche Mitarbeiter der Anstalt ihren Gestellungsbefehl erhalten. Auch Pfarrer Ludwig Schlaich, der Anstaltsleiter ist darunter. Er hatte sich in den Jahren zuvor freiwillig zu militärischen Übungen gemeldet und sich zum Reserveoffizier ausbilden lassen. Helenes Hausvater Rektor Fritz Rupp, Kreisredner der NSDAP, hält 1940 am Pfingstmontag auf dem Frühlingsfest eine große Rede. In national-religiöser Begeisterung ruft er aus:
„Als Christen sind wir dazu verpflichtet, Kämpfer zu sein. Wir haben die Treue zu halten unserem irdischen Führer Adolf Hitler, wie es auch unsere Pflicht ist, Gott treu zu sein.“
Helenes Bruder Hermann Krötz ist 1940 Soldat in Belgien (Flandern). Datiert vom 15. September schreibt er an seine Eltern. Er bedankt sich für die ihm zugeschickten Äpfel aus Oberurbach: „ Ich habe sie alle schon gegessen, sie haben gut geschmeckt. Von gestern auf heute hatte ich Wache. Als ich auf Posten stand, konnte ich das reinste Feuerwerk sehen.“ Als dieser Feldpostbrief in der Heimat ankommt, ist Helene bereits deportiert und ermordet. Von ihrem Tod wird er bei seinem Kurzurlaub Ende Oktober erfahren. (Anm: Hermann Krötz fällt 1944 in Russland).
Anfang Oktober 1940 erhalten Wilhelmine und Friedrich Krötz folgende Nachricht von der Landes-Pflegeanstalt Grafeneck:
„Leider müssen wir Ihnen mitteilen, daß Ihre Tochter Helene Krötz, die am 19. 9. 40 auf ministerielle Anordnung gemäss Weisung des Reichsverteidigungskommissars in die hiesige Anstalt verlegt werden musste, unerwartet am 4. Oktober 1940 an Wanderrose mit anschliessender Blutvergiftung verstorben ist. Bei ihrer schweren, unheilbaren Erkrankung bedeutet der Tod eine Erlösung für sie…“
Am 21. Oktober kondoliert Fritz Rupp mit den Worten: „Der Tod ihrer Tochter hinterließ in unserer Anstalt herzliches Bedauern. Helene war 14 Jahre hier, sie war an die Anstalt und an ihre Pflegerinnen gewohnt, wir hatten sie lieb und vermissen sie…“
Die historischen Quellen zeigen uns, dass sich die Anstaltsleitung für das Leben vieler Bewohnerinnen und Bewohner einsetzt. Dass dies auch für Helene Krötz gilt, ist ganz unwahrscheinlich. Eine undatierte Aktennotiz von Fritz Rupp zählt sie vielmehr zu den“ hoffnungslosen Fällen“. Er schreibt nach ihrem Tod: „Zu keiner Arbeit fähig, ging immer nur im Garten lang und zupfte von den Sträuchern Blätter ab und wenn man ihr wehrte, tat sie es wieder.“
Es liegt diesem Text die Pfleglingsakte von Helene Krötz im Archiv der Diakonie Stetten zugrunde (ADSt V 03 Krötz Helene), die Darstellung der letzten Stunden im Leben von Helene Krötz orientiert sich im Wesentlichen an Hans-Ulrich Dapp, Emma Z. Ein Opfer der Euthanasie, Stuttgart 1991, S. 87-99 sowie Peter Schwarz, „Ein unwertes Leben“ – Der NS-Massenmord an Behinderten, in Waiblinger Kreiszeitung vom 20. März 2010. Zum Alltag in der Anstalt Stetten im National-sozialismus vgl. Martin Kalusche, „Das Schloß an der Grenze“. Kooperation und Konfron¬tation mit dem Nationalsozialismus in der Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptische Stetten i. R. (DWS 10), Heidelberg 1997 (vergriffen, eine 2. Auflage erscheint im Herbst 2011).
Renate Seibold-Völker
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