Gewalträume und Krankenmord

25.05.2012 - Kategorie: Debatte

Das Buch „Bloodlands“ des Yale-Historikers Timothy Snyder schlägt seit einiger Zeit größere Wellen. Snyder versucht auch nicht weniger als,  wie Stefan Troebst in einer Rezension schreibt,

„eine zwischen 1932/33 und 1945 sukzessive von sowjetischem Terror und nationalsozialistischem Vernichtungswahn verwüstete Großregion Europas“

zwischen den geographischen Eckpunkten Posen, Leningrad, Stalingrad und der  Krim auszumachen. Dies hat insbesondere in Deutschland eine Debatte hervorgerufen, in der etwa Dan Diner in der Welt besorgt fragte, ob in einem solchen Großraum denn nicht etwa Auschwitz verloren gehen oder gar nicht mehr auf der Landkarte zu finden sein könnte. Er kritisierte vor allem den von Snyder gewählten Maßstab der Opferzahl und beharrte auf der Singularität des Holocaust, der sich ausdrücke als

„eine spezifische, als absolut zu bezeichnende nazistische Vernichtungsabsicht: Alle Juden sollten zu Tode gebracht werden und dies überall.“

Die Debatte fasste jetzt Michael Wildt in der Süddeutschen Zeitung zusammen: Er plädiert für das genaue Hinsehen und stellte fest, dass beim Judenmord

"Antisemitismus ebenso ein Faktor [war] wie allgemein die Ethnisierung des Politischen, imperiale Expansion und Herrschaftssicherung ebenso wie ökonomische Ausplünderung, utopische gesellschaftliche Neuordnungspläne wie die nackte Gier, den Besitz des Nachbarn zu rauben."

Was dieser Diskurs, ob und wie man von einem eurpäischen Gewaltraum in den Jahren 1933-1945 sprechen kann, mit dem NS-Krankenmord zu tun hat?

Zunächst einmal nichts, wenn man all den Rezensionen, Besprechungen und Diskussionen, die insbesondere die Verleihung des Leipziger Buchpreises an Snyder auslöste, folgt. Nirgends werden die Krankenmorde auch nur an einer Stelle erwähnt. Michael Wildt stellt zwar ganz richtig fest, dass beide Seiten, Deutsche wie Sowjets, Polen aufteilen und seine Eliten beseitigen wollten.Was aber war mit denen, die am ganz anderen Ende der sozialen Skala standen?

Bekannt, wenn auch bei weitem noch nicht intensiv genug erforscht, sind die Morde, die vor allem ein Sonderkommando unter der Leitung von Herbert Lange im Warthegau unter Benutzung von Gaswägen an Patienten von polnischen psychiatrischen Krankenhäusern verübte. Schon sehr viel weniger bewusst ist man sich der Tatsache, dass unter denen, die in der ersten Gaskammer des Dritten Reiches im Fort VII in Posen umgebracht wurden, auch Bewohner eines Altenheimes und Prostituierte waren.

Was aber machte die Rote Armee beim Einmarsch in die  kresy, die polnischen Ostgebiete? Was war mit den Lemberger Krankenhäusern wie Kulparkow? Wie wurden die Patienten behandelt? Hatten die Sowjets überhaupt irgendwelche Pläne für die Krankenhäuser und Psychiatrien, die in ihr Herrschaftsgebiet gelangten? Floss hier auch das Blut in den Strömen, die für ein Bloodland nötig sind? Hier stehen  wir vor einer riesigen Forschungslücke, deren Schliessung dringend geboten erscheint.

Eine Beantwortung der oben aufgeworfenen Fragen könnte die Debatte um die Bloodland-These vertiefen und vielleicht die eine oder andere vielleicht signifikante Differenz zwischen den deutschen und den sowjetischen Verbrechen hervorheben.